Am 6ten 6ten 2012 zog gegen 7 Uhr, wie in weiten Teilen Deutschlands deutlich zu sehen war, die Venus an der Sonne vorbei. In Natura habe ich es nicht gesehen. Denn in Frankfurt am Main regnete es Bindfäden. Doch im Frühstücksfernsehen wurde darüber berichtet. Es sei ein Ereignis, das wesentlich seltener stattfindet, als beispielsweise eine Sonnen- oder Mondfinsternis, so hieß es.
Noch ein wenig schlaftrunken nahm ich die Nachricht auf. Hatte ich doch, bis wenige Stunden zuvor, die halbe Nacht ‚Google‘ zelebriert. Zuletzt, um eventuelle Neuigkeiten bezüglich der mehrfach angekündigten Jubiläumstour der Rolling Stones herauszufinden. Folglich noch mit dem Thema beschäftigt, ging mir durch den Kopf, ob denn die Stones wohl auch beim nächsten Venustransit noch auftreten würden? Ich musste schmunzeln.
Bereits vor etlichen Jahren erklärte Keith Richards bei einem Interview auf die Frage, wie lange es die Rolling Stones noch geben würde: „There is the sun, there is the moon, there is the air to breath and there are the Rolling Stones.” Nun, angesichts dieser Aussage stehen die Chancen nicht schlecht, dass die Stones selbst beim nächsten Durchzug der Venus irgendwo auf der Welt einen Gig haben werden. Wenn auch das frühestens in gut 105 Jahren der Fall sein wird. Einfach mal abwarten.
Tatsächlich haben die Stones, ihre Musik, ihr Gebaren, ihre pure Existenz, ein Leben lang auf mich eingewirkt. Von den ersten Zuckungen als pubertierender Bub, bis hin ins hohe Rentenalter. Möglich, dass manch einer meint, er kenne das ebenfalls. Die Beatles, Buddy Holly oder Beethoven hätten auch ihn nie losgelassen. Aber gemach. Nach wie vor Fan eines ehedem stets krankenkassenbebrilltem Buddy Holly zu sein, ist für mich schlichtes Verweilen in Vergangenem. Doch Persönlichkeiten, die mit ihrem Schaffen über Jahre, eben ein Leben lang, Präsenz haben, sind wahrlich ein rares Phänomen. Ad hoc fallen mir nur zwei Personen ein, denen dies ebenfalls gelungen ist. Es sind die Queen und Chuck Berry. Mit Lizzy und ihrem Werdegang hatte ich nie was am Hut. Und Chuck hab‘ ich erst in hohem Alter – trau‘ keinem über 30 – schätzen gelernt.
Kein Papst, kein Präsident, kein Kanzler oder Tagesschausprecher hat je jene Kontinuität erreicht, die Jagger, Richards & Co. über all‘ die Jahre abgeliefert haben. Nicht einmal meine Eltern – beide leben noch – waren permanent parat. Klar, kann ich mich noch an die zaghaften Versuche seitens meiner Mutter erinnern, mir Liedgut näher zu bringen. Doch als ich, des Lesens bereits kundig, erfuhr, wie beim Untergang der Titanic auch etliche Kinder ertrunken sind, fand ich „Alle meine Entchen“ ganz und gar nicht mehr amüsant. Denn die Schwimmwesten, die da verabreicht wurden, waren für die Erbsen einfach nicht geeignet. Kopfüber trieben sie in eisiger See. Schwänzchen in die Höh‘.
Steinzeit ohne Stones.
Später dann registrierte ich, dass meine Mutter ein Faible für Freddy Quinn hatte. Familie Abrecht, die im Erdgeschoss des Hauses wohnte, in dem auch wir lebten, hatte bereits ein Radio – mit magischem Auge – und einem Plattenspieler obendrauf. Bisweilen wurde abends gemeinsam Rommé oder Canasta gespielt. Zunächst in Begleitung von Freddy Quinn – das waren damals noch 78er Schellackplatten – und zu vorgeschrittener Stunde erklang Marschmusik. Die gefiel sowohl Herrn Abrecht, als auch meinem Vater. Obwohl sie sich beide nicht über das richtige Parteibuch einig waren.
So viel zu frühen musikalischen Ritualen, bei denen es bloß einmal eine Ausnahme gab. Da spielte Eintracht Frankfurt gegen Real Madrid. Fußball. Das Spiel wurde live im Radio übertragen. Klasse. Kein Freddy, keine Märsche, bloß Kommentatoren, die beim Canasta-Spiel zur Halbzeit ein 3:1 für Frankfurt konstatierten. 60 Minuten später stand es 7:3 für Madrid. Danach erklang wieder Marschmusik. Ob ich beim Kartenspiel gewonnen hab‘, kann ich nicht mehr erinnern.
Gegenwärtig ist mir allerdings noch der Eklat, den meine Schwester, Halbschwester – gab wohl auch vor den Stones schon wilderer Zeiten – über sich ergehen lassen musste. Sie schwärmte von einem Auftritt von Bill Haley und verschaffte sich damit eine gnadenlose Abfuhr ihres, eben nicht, Vaters. Die Bezeichnung „Negermusik“ fiel und wurde auch nicht revidiert, als sie später den Gesängen von Elvis Presley frönte. Einige Jahre zuvor mochte sie noch das Lied der Capri-Fischer. Oft trällerte sie, „wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“. Freilich waren solche Melodien anders, als das, was Herr Haley ablieferte. Doch bloß weil sie inzwischen ein wenig erwachsener geworden war, einen derartigen Affentanz zu veranstalten, war doch nun wirklich nicht nötig.
Ich jedenfalls war musikalisch noch unbefleckt. Musste ein Lied eher mehrmals hören, bevor ich beurteilen konnte, ob es mir denn nun gefiel. Bloß wie sollte ich was mehrfach hören, wenn nicht mal ein Plattenspieler, geschweige denn der Tonträger vorhanden war?
Nun, das sollte sich ändern. Schon bald. Und zwar mit der Mitgliedschaft meiner Schwester im Bertelsmann-Schallplattenring. Als erstes orderte sie einen kleinen Plattenspieler. Ein braunes, kunststoffbezogenes (Lederimitat) Koffergerät mit eingebautem Verstärker. Dann flatterten quartalsmäßig Schallplatten ins Haus. Vorschläge von Bertelsmann, wenn während des Quartals nichts bestellt wurde. Meiner Schwester gefiel das gar nicht. Brauchte sie den Plattenspieler doch vor allem für die Singles, die sie sich von ihren Freunden lieh, und von denen ich gefälligst die Finger zu lassen hatte. Verständlich. Denn solch eine Single kostete damals satte 4 Mark und war schnell verkratzt. Ich jedoch empfand die Auswahl von Bertelsmann vorzüglich. Die sandten Scheiben der unterschiedlichsten Stile. Oftmals jazziges als Sonderauflage oder irgendwelche Restposten international gestandener Künstler, die hierzulande keinen rechten Anklang fanden. Darunter beispielsweise ‚Los Machucambos‘, die mit ihrem Song ‚Pepito‘ so was wie einen Welthit gelandet hatten. Oder Harry Belafonte. Sein ‚Island in the sun‘ ist einfach zeitlos schön. Doch am besten gefiel mir, wenn Bertelsmann Platten der Kategorie Jazz offerierte. Kennen Sie zum Beispiel ‚Clarence Williams Blue Five‘? Louis Armstrong wirkte mit. Und Sidney Bechet. Das Stück ‚Cake walking babies from home‘, aufgenommen 1925, hörte ich wieder und wieder. Das war Musik, die ursprünglich rüber kam. Nicht aalglatt wie Herr Belafonte oder belanglos wie die Hits, allwöchentlich von Hanns Verres im Radio in der Schlagerbörse moderiert. Schade, dass Bertelsmann damals keine Bluesscheiben anbot. Ich hätte womöglich schneller zur Musik gefunden, die mich bewegt. Doch es ging auch so.
Noch in der Grundschule kam die Frage auf, ob ich denn ein Instrument lernen wolle. Blockflöte (kostengünstig) fand ich blöd. Gitarre (kostenintensiv) kam nicht in Frage. Im Chor singen fand Mutter albern und wurde von Vater (Marschmusik) ebenfalls nicht gefördert. Überhaupt wurde kulturell, generell nichts gefördert. Bücher lesen, Bilder betrachten, Theater besuchen --- Gott bewahre. Okay, meine Eltern lebten in kargen Zeiten. Doch a bisserl was geht alleweil, sollte man meinen. Weit gefehlt. Ich glaube, dass von Haus aus schlicht nichts gefördert werden konnte. Was sollen die Kinder eines Hitler-Regimes schon groß fördern? Ihr Gedankengut war geklont und hatte letztlich verloren. Anderes blieb – im wahrsten Doppelsinn – unerhört.
Mit Ach und Krach, kam ich in die Mittelschule. Gymnasium kam gar nicht erst in Frage. Erinnere noch das Gespräch mit der Klassenlehrerin und meiner Mutter. Die Klassenlehrerin bescheinigte mir schlicht Unvermögen. Und Mutter meinte, „er ist ja noch so klein“. Entsprechend kam ich in die Hufnagel-Real-Schule. Real klang gut. Ich erinnerte dieses Fußballspiels, Eintracht Frankfurt vs. Real Madrid. Real hatte dicke gewonnen. Ich fühlte mich als Winner.
Doch wie war’s wirklich? Englisch, „This is Mr. Pig, this is Mrs. Pig“, raffte ich gerade noch. Nach einer Probe-Lektion in Französisch wurde mir empfohlen, es doch besser bloß bei Englisch zu belassen (Thank God, das die Stones Briten sind). Mathematik oder gar Algebra bekam ich überhaupt nicht aufs Gleis. Mit Deutsch war’s damals auch nich‘ so weit her. Doch zum Glück gab’s ja noch Noten in ‚Betragen‘, ‚Sport‘ und ‚Musik‘. Kurzum: ich konnte mich durchwursteln, dachte ich. Doch just Musik sollte zum Verhängnis werden.
Fernges, der Musiklehrer, versuchte seiner Klasse (uns) beseelt, die Kunst der Fuge beizubringen. Na, was glauben Sie, woran ein pubertierender Haufen Jugendlicher denkt, wenn er das Wort ‚Fuge‘ hört? Genau! Wir, die Buben, ich auch, rotzten bei seinen Darbietungen in die Fuge von Fernges‘ Flügel. Fernges war verzweifelt. Und meine Option, die Noten in Musik und Betragen als Ausgleich für die miserablen Noten in anderen Fächern zu benutzen, war dahin. Versetzung fast ausgeschlossen, hieß es in dem blauen Brief, der damals regelmäßig in unserer Post lag.
Doch es gab noch eine Klassenlehrerin, die das Dilemma mit Herrn Fernges erkannte und löste, indem sie uns aufforderte, zur einer der kommenden Unterrichtsstunden, Platten der Musik mitzubringen, die uns gefiel. Nicht schlecht, muss ich im Nachhinein sagen. Zumal sie dafür eine Doppelstunde ansetzte. Nahezu jeder kramte zu Hause eine entsprechende Scheibe hervor und jeder freute sich, absehbar ein Beispiel für seinen musikalischen Geschmack präsentieren zu können. Logisch, es waren die Beatles vertreten. ‚She loves you‘ war seit Wochen angesagt. Hans Krahl brachte was Neues von den Searchers mit: ‚Needles and Pins‘. Harald, er hatte einen älteren Bruder, steuerte ‚Stand by me‘ bei. Ein anderer lies ‚In the upper room‘ von Mahalia Jackson erklingen – hat mir sehr gut gefallen – und schließlich durfte auch ich mein aktuelles Lieblingslied auflegen. Und was legte ich auf? Armand Gordon und seine Ragtime Jazzband. Das Stück hieß ‚ Oriental strut‘, zeichnete sich durch eine begnadete Banjo Passage aus und war, nun, was wohl, eine Sonderpressung vom Bertelsmann-Schallplattenring.
Nach jedem Musikstück wurde ein wenig darüber diskutiert und abschließend seitens der Klassenlehrerin, Fräulein Belzer, bekundet, dass klassische Musik auch erheblichen Einfluss in die Beat-Musik genommen hat. Wir konnten das zwar nicht so recht nachvollziehen, doch es half schlussendlich, sich mit Fernges wieder zu vertragen. Eine Woche später waren Herbstferien und es gab Zeugnisse. Und, kaum zu glauben, ich war versetzt.
Eine Uschi und fünf Stones
Nicht versetzt hingegen, war eine gewisse Uschi Gräbner. Sie kam nach den Ferien neu in unsere Klasse, und sie war Klasse. Sie erregte nicht nur mein Interesse, sie war auch ein, zwei Jahre älter – was in diesem Alter gegenüber Buben ein gefühltes Jahrzehnt ausmacht. Kurzum: Ich hatte keine Chance. Zumal ich auch noch einer der jüngsten in der Klasse war. Erst einige Jahre später kamen wir uns näher und treffen uns sogar heute noch. Damals jedoch begannen für mich, mit Uschis Erscheinen, die Rolling Stones.
„Guckt doch mal“, giggelten die Mädels eines Morgens im Klassenzimmer und blätterten dabei wild mit der neuesten Ausgabe der Bravo, der damals führenden Jugendzeitschrift, die es heute nach wie vor gibt. Grund für das Gebaren, war ein Beitrag über die Rolling Stones. Hierzulande der allererste. „Der sieht doch aus wie ein Affe“, rief eine. „Und was der für abstehende Ohren hat“. – „Und der hier, der is‘ schon fast 30.“ Allesamt mäkelten sie an den Haaren herum, besonders an denen von dem, der gern alte Jacketts trug. „Aber der, der hat doch einen ganz tollen Mund“, versuchte Uschi eine Bresche für die neue Band zu schlagen. Da wurde ich hellhörig. Wie gesagt, ich hatte längst ein Auge auf Uschi geworfen. Jedenfalls auf die eine oder andere ihrer Körperpartien. Es konnte folglich nur hilfreich sein, zu wissen, welche Art von Mund Uschi denn nun ganz toll findet.
Ich warf einen Blick aufs Foto, erkannte sofort, wen sie meinte und fragte, „der da?“ Uschi nickte und ich war’s zufrieden. Hatte ich doch immerhin zielsicher den richtigen Kandidaten rausgedeutet. Doch ob mir das letztlich weiter helfen würde?
Einige Zeit später hatte Uschi Geburtstag. Warum auch nicht? Verblüffend war nur, dass sie auch mich dazu einlud. Oje, oje. Was macht man da? Was schenkt man da? Wie verhält man sich da? Von Haus aus hatte ich das schlicht nicht gelernt. Keiner meiner Geburtstage wurde je mit anderen Kids gefeiert. Entsprechend selten wurde ich zu anderen Geburtstagen eingeladen. Kurzum: Ich fühlte mich völlig überfordert.
Womöglich hatte ich im Fernsehen zu viele alte Filme mit Willy Birgel gesehen. Ich entschied mich jedenfalls für eine rote Rose und eine Schachtel Pralinen. Tolle Idee, was? Mon Chéri gab’s glaub’ noch nicht. Ich verpackte das Sarotti-Sortiment in Seidenpapier und mich in einen beigen Blazer, den ich kürzlich (zum Reinwachsen) geschenkt bekam. Dann schnürte ich zur besagten Party, die nachmittags für 16 Uhr angesetzt war.
Obwohl alle Beteiligten zwischen 14 und 16 Jahre alt waren, erschien mir die Veranstaltung doch sehr dubios. Okay, es gab kein Topfschlagen – lernte ich erst durch meine Tochter kennen – aber es gab pausenlos Geplapper, Kaffee und Kuchen satt und keine einzige Gelegenheit, mich ein wenig Uschi zu nähern. Sie packte Geschenke aus, bedankte sich immerhin fürs von mir Mitgebrachte und war schier aus dem Häuschen, als sie von ihrer Mutter diese 30 mal 30 Zentimeter große, dünne Kachel überreicht bekam. Noch während Uschi damit beschäftigt war, das Schluppche (Frankfurterisch für Schleife) zu öffnen, wurden Tisch, Stühle und Sessel zur Seite geräumt, der Plattenspieler hochgedieselt und wenige Sekunden später donnerte „Around And Around“ aus dem Lautsprecher. Der erste Song auf der A-Seite der ersten in Deutschland erschienen Stones-Elpee. Alles ganz entgegen der von Andrew L. Oldham (Manager der frühen Stones) verfolgten Marketing-Strategie: „Verschrecke die Eltern, dann gewinnst Du die Kids“. Denn, wie erwähnt, Uschi bekam die Scheibe von ihrer Mutter überreicht. Sie hatte wahrlich coole – so sagt man wohl heute – Eltern.
Binnen Kurzem waren alle im Zimmer aus dem Häuschen. Außer mir. Denn auch tanzen oder zumindest, sich im Takt der Musik zu bewegen, hatte ich bis dahin nicht gelernt und größte Hemmungen, es auch nur irgend geartet zu versuchen.
Zwölf Songs waren auf „Around And Around“. Beide Seiten einmal durchgespielt, war gerade Mal eine halbe Stunde vergangen. Schnittchen wurden gereicht, nachdem die Platte einen astreinen Hattrick absolviert hatte. Doch ich war bereits beim zweiten Durchgang hin und weg. Uschi hin, Uschi her, das war gänzlich nebensächlich. Viel mehr faszinierte mich dieser Sound, der ruppig gerotzt oder liebevoll verträumt daher kam. So was hatte ich bisher noch nicht gehört. Weder bei Bertelsmann, noch bei der Schlagerbörse von Herrn Verres.
Am liebsten wäre ich sofort losgezogen und hätte mir das Album – hieß damals so, obwohl es gar nichts zu blättern gab – gekauft. Bloß wovon? So wenig wie ich Tanzen beigebracht bekam, so viel Taschengeld bekam ich auch. Klar, bisweilen wurden mir einige Mark zugesteckt, besonders von Tante Irmi, wenn sie zu Besuch war. Doch sie war nicht zu Besuch. Es half auch nicht, dass ich mir bei Frau Abrecht immer mal ein paar Groschen für Unkraut zupfen, Sägemehl fürs Katzenklo holen oder vergleichbare vermeintliche Dienstleistungen verdienen konnte. Bis da 18 Mark für eine Langspielplatte beisammen gewesen wären: Mann, das hätte sich gezogen. Selbst der zu erwartende Geldsegen – ich hatte davon gehört – der sich in Form von allerlei Kuverts, bestückt mit geprägten Glückwunschkarten und begehrten Scheinen anlässlich der eigenen Konfirmation einstellen sollte, lag noch in weiter Ferne. Es nutzte alles nichts. Ich musste mich erst einmal damit begnügen, die Musik der Rolling Stones zu kennen und sie, gelinde gesagt, zu mögen.
Kein Jackett wie Brian Jones
Wenige Wochen später ging’s in Urlaub, um es mal so zu nennen. Tatsächlich fuhren wir in die DDR, damals noch landläufig Zone – Kürzel von Sowjetische Besatzungszone – genannt. Unser Ziel war Wernigerode im Harz. Meine Großeltern väterlicherseits lebten damals dort noch.
Wernigerode war zu Zeiten der DDR eine wunderschöne Stadt. Gewachsen, gewiss renovierungsbedürftig, aber eben nicht zugepflastert mit Fassadenreklame und unsinniger Architektur, wie es seit den 90er Jahren der Fall ist. Zudem war es aber auch ein denkbar ungeeignetes Pflaster, um mal eben in eine Platte der Rolling Stones reinzuhören. Das gab’s einfach nicht. Also reinhören konnte man schon. Aber eben nicht in eine Stonesplatte. Selbst von den Beatles war hier nichts zu hören. Jedenfalls nicht ohne Westsender, was sowieso verboten war. Und die Kreise in denen wir uns bewegten, waren leider nicht bereit, das Verbot wegen irgendwelcher „Negermusik“ zu brechen. Traurig, traurig.
Stones summend und von Uschi sinnierend, schlenderte ich die Burgstraße, eine der Hauptstraßen in Wernigerode, entlang. Dann sprang mir, nächst einem HO-Laden. ein Schaufenster ins Auge. Zig alte Jacketts waren darin zu sehen. Ordentlich auf Bügel gehängt, allesamt an einer Kleiderstange aufgereiht. Eine Fundgrube juchzte ich für mich, zumal es eine Art Secondhandladen war und demgemäß preislich noch überschaubarer sein mochte – Ostmark!
Schnurstracks betrat ich das Geschäft, grüßte beiläufig und konstatierte kurz meine Freude darüber, dass es hier alte Jacketts gibt. Doch statt eines oder zwei dieser Exemplare zu erwerben befand im mich im Handumdrehen wieder auf der Straße. Was war geschehen? Nun, ich hatte schlicht so ziemlich alles verkehrt gemacht, was man dortzulande verkehrt machen konnte.
Man betrat hier nicht schnurstracks einen Laden. Wenn überhaupt, eher zögerlich. Leicht gebeugt und ein „Entschuldigung, ich möchte nicht stören.“ nuschelnd. Bedienstete, gar Ladeninhaber, waren nicht beiläufig, sondern ostentativ devot zu begrüßen. Vor allem, um sich die Chance, ein aktuell nicht vorhandenes Gut doch noch unterm Ladentisch zu ergattern, nicht zu vermasseln. Und angebotene Ware, mochte es auch gar nicht so gemeint sein, war nicht als alt zu bezeichnen. Es entsprach nicht im Geringsten den Gepflogenheiten eines aufstrebenden Arbeiter- und Bauernstaates.
Gut soweit. Kein altes Jackett à la Brian Jones, mit dem ich Uschi in Frankfurt nach den Ferien hätte beeindrucken können. Kein ein „I Wanna Be Your Man“, das übrigens von Lennon / McCartney für die Stones geschrieben wurde, kein „If You Need Me“, bestenfalls ein „Good Times, Bad Times“. Aber das auch nur im Kopp.
Stattdessen gab’s Besuche bei Bekannten meiner Großeltern. Zum Glück waren die Bekannten jünger und hatten auch Kinder. Und zum Glück hatten die auch Ferien. Bei manchen Bieren parlierten wir so mancherlei. „Bei uns kann man seinen Beruf frei wählen“, gab ich zum Besten. „Bei uns auch“, erwiderte Werner Schubert. „Bloß wenn da im Plan kein Bedarf ist, bekommst Du eine andere Ausbildungsstätte zugewiesen“, ergänzte Werner. Es dauerte etliche Jahre, bis ich raffte, dass es im Grunde – wenn auch unter anderen Vorzeichen – in der BRD genauso war. Tags drauf, wir waren erneut bei Schuberts zu Gast, als Werner wie ein geschlagener Hund nach Hause kam. „Der Herbert ist weg“, spie er ins Zimmer. „Der wird schon wieder auftauchen“, meinten die Eltern. „Nein, der is‘ in den Westen!“ – „Was?!?“ – „Ja, der is‘ heut‘ früh abgehauen.“
Republikflucht galt dereinst als das schlimmste Vergehen, das man in der DDR begehen konnte. Viele Versuche scheiterten. Etliche wurden dabei getötet. Und die Angehörigen derer, denen es gelang, hatten daraufhin, weiß Gott, wenig zu lachen.
„Werner, lass den Blödsinn“, versuchten Schuberts zu läutern. „Is‘ kein Blödsinn. Herbert is‘ weg. Ganz früh, heut‘ früh hat er seine Schwester geweckt. Sie hat es mir gerade erzählt. „Kommste mit, hat er gefragt. Sie wusste nicht, was er wollte. Fragte, wohin. Na, in den Westen, hat er gesagt. Spinner, gab sie zur Antwort, wollte weiter schlafen und schlief weiter. Herbert gab ihr noch einen Kuss, erzählte sie unter Tränen, und dass ihre Eltern noch nichts davon wissen“. „Ich soll es ihnen sagen“, fuhr Werner fort und ergänzte, „Sie hat Angst, ob er überhaupt noch am Leben ist“.
Schuberts, inzwischen gewahr, dass Werner keinen Scheiß erzählte, begannen zu erfassen und leiser zu sprechen. Erklärend ergänzten sie, „Stimmt, wenn so was passiert, erfährst Du es als Familienangehöriger zuletzt“. Vater Schubert, zwanghaft versuchend, wieder eine gewisse Leichtigkeit ins Gespräch zu bringen, meinte, „Na, zum Glück haben wir ja auch Schulferien. Da vermisst ihn erst mal keiner“. Doch letztlich war das Ereignis zu massiv, um es einfach zu übertünchen. Es ist auch nicht gelungen. Unser Besuch wurde abgebrochen und Werner machte sich auf den Weg, die Schwester des Flüchtlings zu trösten.
Am nächsten Tag wussten unzählige Leute von Herberts Flucht. Erstaunlich war jedoch, dass offenbar kein falsches Wort an falsche Ohren drang. Wir blieben etwa noch eine Woche in Wernigerode. Und all die Tage ward nicht verlautbart, dass einer dieser Staatsdiener bei der betroffenen Familie aufgetaucht war. Ganz im Gegenteil. Alle, außer der Stasi, wussten längst, dass Herbert heil im Westen angekommen und bei entfernten – welch Doppelsinn – Verwandten herzlich aufgenommen wurde. Es ging ihm gut.
Wegen der aufregenden Ereignisse vergaß ich allerdings, Werner anzuspitzen, mir doch noch beim Erwerb eines dieser alten Jacketts zu helfen. Er hätte ganz sicher die richtigen Worte gewusst. Doch das fiel mir erst wieder im Interzonenzug ein.
Wieder zu Hause, versuchte ich verschärft in meinen beigen Blazer reinzuwachsen. Vergeblich. Ich übergab ihn, gute 10 Jahre später, meinem Vater. Zum Reinwachsen. Er freute sich. Schließlich war nicht mal das Neue von runter.
Meine ersten Steine stahl ich
Eines Morgens, es waren immer noch Ferien in Hessen, lag eine Postkarte für mich im Briefkasten. Uschi hatte mir geschrieben. Einen Gruß aus Jugoslawien. Adressiert an den Schüler Soundso. Ich war entsetzt. Es musste ja nicht „Herr“ heißen, aber hätte nicht einfach der Name gereicht? Trotz aller Freude fühlte ich mich miserabel, hatte das dringende Verlangen, Land in puncto Ansehen, gut zu machen. Probat erschien mir der Kauf einer Stonesplatte. Ja, ich meinte etwas besitzen zu müssen, was Dazugehören dokumentierte.
Ein wenig Barschaft hatte ich bereits. Den Rest bekam ich für Unkraut zupfen – es sprießte, genau zum richtigen Zeitpunkt, wie blöd – und einen Griff in meines Vaters Münzsammlung zusammen. Hatte er doch in seinen Schubladen nicht nur alte Münzen, sondern auch aktuelle Konvolute.
Damals, noch nicht des Sammelns und gewisser Unterschiede kundig, griff ich mir einen Fünfziger – und wo man schon dabei ist – auch noch ‘ne Mark. Blöd war bloß, dass just der Fünfziger einer jener Fehlprägungen war, die in Numismatikerkreisen recht hoch gehandelt wurden. Er war das zig fache seines Nennwertes wert. Klar, Vater entdeckte sofort den Verlust. Doch sein Aufbäumen hielt sich erfreulicher Weise in Grenzen. Lediglich Mutter mahnte, „Fredi, wenn Du so was noch mal machst, kommst Du ins Heim“. Endlich heim kommen kannte ich. Doch ich ahnte, dass hier etwas anderes gemeint war.
Tags drauf machte ich einen Abstecher ins Bahnhofsviertel. Nein, nicht in den dort gelegenen Rotlichtdistrikt, sondern in ein kleines Elektrofachgeschäft, das über eine erstaunlich gut sortierte Plattenabteilung verfügte.
Der Besitzer, so besagte ein entsprechendes Schild im Schaufenster, hatte einen Bruder, der unter gleichem Namen – kaum ein Wunder – ein ebensolches Geschäft in der DDR, ich glaub’ in Leipzig, führte. Gewiss unterschied sich das Sortiment erheblich, sinnierte ich und betrat den Laden.
Dingdong, ertönte die Türglocke. Hinterm Tresen erhob ein Grauhaariger seinen Kopf. „Haben Sie irgendwas von den – äh, Rolling Stones?“ fragte ich. Ohne etwa nachzufragen, umkurvte er seinen Tresen und steuerte zielsicher eine der schier endlosen Singlereihen an.
„Zur Zeit habe ich nur die hier“, sprach’s und zog eine EP hervor. Erfreut erkannte ich ein Cover – schwarzer Fond – las in Rot, Orange, Gelb, „The Rolling Stones“ und fragte. „kann ich mal reinhören?“ – „Welches Lied?“ Ich spürte, das der Besitzer damit etablieren wollte, alles anhören, geht nicht.
Ein wenig erbost trat ich näher und versuchte irgendwelche Titel zu identifizieren. An sich ein sinnloses Unterfangen, da ich mir bislang ohnehin noch keinen Titel richtig gemerkt hatte. Doch ich irrte. „Not fade away,“ den Titel kannte ich. Zwar nicht von den Rolling Stones, sondern von diesem, stets krankenkassenbebrilltem Buddy Holly. Ich mochte seine Musik zwar nicht sonderlich, war mir ebenfalls zu geleckt, doch ich dachte, da kann man wenigstens mal vergleichen.
Ich folgte dem grauhaarigen Discjockey zu seinem Tresen, platzierte mich auf einer Art Barhocker und ergriff die Kopfhörer. Halt, stimmt nicht. Damals gab’s – zumindest in diesem Laden – noch keine Kopfhörer. Zwei Hörer am Stiel waren es. Hatte den Vorteil, dass gleich zwei Leute mal reinhören konnten, zumal Stereo längst noch nicht verbreitet war.
Obwohl die Platte neu war, knisterte sie ein wenig, doch davon war ab dem ersten Akkord nichts mehr zu hören. Wäre gewiss auch bei der Buddy-Holly-Version so gewesen. Aber dass es sich nicht um nämlichen Herrn Holly handelte, war ebenfalls ab dem ersten Akkord klar. Die Gitarre kam einfach aggressiver und dreckiger rüber.
Das Gefühl wiederholte sich sogleich bei der ersten Textzeile. Was gesungen wurde verstand ich zwar nicht – mein Englisch war damals unter aller Sau – aber wie gesungen wurde, das haute voll rein. Kein Vergleich, zu diesem tuntig glucksenden Schmeichelstimmchen des lieben Buddy. Hier rotzte einer – wer eigentlich? – seinen Text brachial ins Mikrophon und scherte sich einen Teufel um den vermeintlich guten Ton. Das gefiel mir. Auf Anhieb.
Das schien auch der Ladenbesitzer zu bemerken. Denn obwohl diese Version ganze 30 Sekunden kürzer war als die Holly-Interpretation, hob der Geschäftsmann den Tonarm vom Plattenteller und fragte: „Wollen Sie die Platte haben?“ Die Hörer noch in den Händen stotterte ich so was wie, dass dies ja eine EP sei und doppelt so viel kostet wie eine Single – nämlich acht statt vier Mark – und dass ich dann doch lieber eine Langspielplatte nehme. Die kostete zwar damals 18 Mark, aber es gab auch damals schon Billiglabel. Halber Preis und voller Genuss, so man denn den Sänger mochte.
Entdeckt hatte ich im Schaufenster, direkt neben dem Blutsbruderhinweisschild, eine Platte von Mahalia Jackson. Von ihr hatte ich, noch vor den Ferien „In the upper room“ im Radio gehört. Eine ziemlich lange Life-Version. Und auf dem Cover war eben dieser Titel vermerkt.
„Was kostet denn diese Mahalia-Jackson-Platte?“ – „Welche?“ – „Die neben dem Schildchen von ihrem Bruder.“ – „Die?!? 9 Mark.“ – „Klasse, die nehm’ ich.“ Wohl weil er daran nicht so viel verdiente, sank sein Interesse an mir merklich. Er begleitete mich zwar in Richtung des Regals – weil er bei der Gelegenheit die Platte der Rolling Stones zurückstellen konnte – doch er gab mir keinen Hinweis, wo ich die Jackson-Platte finden könnte. Billigplatten waren weder nach Interpreten, noch alphabetisch sortiert. Zum Glück.
Der Ladenbesitzer trottete zu seinem Tresen zurück, ahnte, dass ich ein ganzes Weilchen werde suchen müsste und beachtete mich fortan nicht mehr. Irgendwie gärte es in mir. Vielleicht, weil „Not fade away“ so abrupt beendet wurde, vielleicht, weil mich das Bruderschildchen an das ostzonale abblitzen lassen im Jackettladen erinnerte, vielleicht, weil es mich störte, dass er darauf setzte, dass ich beim Suchen der Jackson-Platte womöglich noch was finden und kaufen würde.
Nach einigem forsten fand ich die Platte, zog sie aus dem Cover, schaute aufs Label, ja, es war eine über sechs Minuten lange Version, und während ich die Platte ins Cover zurück gleiten ließ, fingerte ich spontan nach der Stonesplatte, griff sie und schob sie ins Innencover der Mahaliaplatte.
„Die nehm’ ich. Scheint die Version zu sein, die ich neulich im Radio gehört hab’.“ – „9 Mark,“ bekam ich zu hören. Ich gab 10, bekam eine zurück und keine Quittung. Aber er nahm mir die Platte aus der Hand – oh, Gott, was jetzt? Doch er steckte sie nur in eine, mit seinem Logo bedruckte, Werbetüte. Puh!
Plötzlich schoss mir durch den Kopf, wie bekloppt diese Spontanaktion war. Nie und nimmer hätte ich einen Spruch gehabt, der plausibel erscheinen lassen würde, wieso die Stonesplatte sich jetzt im Inneren der Mahaliaplatte befindet. Nun, ich kam nicht in die Verlegenheit und machte mich schleunigst aus dem Staub.
Ich hatte meine erste Stonesplatte, und ich hatte sie geklaut. Allerdings nicht nach der rüden Methode, die Andrew Loog Oldham im Covertext der Elpee „The Rolling Stones Nr.2“ empfahl: „Hau’ einem Blinden auf den Kopf, klau’ ihm sein Geld und kauf’ Dir die Platte.“
„The Rolling Stones Nr.2“ war dann übrigens die erste Platte der Rolling Stones, die ich mir offiziell kaufte. Doch der Reihe nach.
Ohne Freddy ging Fredi zu Fred
Zunächst eilte ich, nein, nicht nach Hause, sondern zu einem Klassenkameraden namens Fred Leis. Der Grund dafür war sehr einfach. Freds Eltern hatten eine Musiktruhe. Eine enorme Kommode, ausgestattet mit einem Radiogerät – das hatte, klar, ein magisches Auge, so ein grünes Licht, dass optisch zeigte, wenn man akustisch gut hörte (Blödsinn) – einem Markenplattenspieler, ein handelsübliches Tonbandgerät, nicht dieses ‚Tefifon‘ (kläglich gescheiterter Versuch, vorgefertigte Tonbandaufnahmen unters Volk zu bringen) und zwei – oder waren’s vier – äußerst ordentlichen Lautsprechern.
Bei uns zu Hause gab’s hingegen diesen Kofferplattenspieler meiner Schwester, dessen Saphir – trotz reichlichen Dudelns – niemals ausgetauscht wurde und somit eher die Dienste eines landwirtschaftlichen Geräts mit fünf Buchstaben erfüllte. Ein Wunder, dass nach mehrmaligem Abspielen einer Platte überhaupt noch was zu hören war.
Der Plattenspieler meines Vaters hingegen hatte zwar kürzlich einen neuen Saphir bekommen, spielte die Platten – darum hatte er sich noch nicht gekümmert – ein wenig zu langsam ab. Hatte zwar die Antriebsrollen mit etwas Tesafilm umwickelt, doch es lässt sich erahnen, dass das nicht so das war. Mochte meinen beiden ersten eigenen Platten jedenfalls weder das eine noch das andere antun.
Zum Glück war Fred zu Hause. Er hörte sogar gerade Musik. Eine Platte von Gus Backus. Der Mann im Mond. Inzwischen hab‘ ich die Platte ebenfalls. Allein wegen des Covers. However. Ich sprudelte los: „Tach Fred. Hab’ mir grad’ ’ne Platte von den Rolling Stones ge... (Räusper) ...kauft.“ – „Was?!? Zeig’ her.“
Ich nestelte die Platte aus dem Jackson-Cover – Hallo, es geht um Mahalia, nicht Michael!!! – und Wupp, lag sie auf dem Plattenteller. Wupp, zerriss der Opening-Akkord von „Not fade away“, den die Stones noch vor die Holly-Version gesetzt hatten, die Stille. Wupp, stand Freds Mutter im Zimmer. „Seid ihr wahnsinnig geworden? Was ist das denn für ein Krach? Macht das sofort leiser!“
Zugegeben, Fred hatte die Lautstärke – allein schon um die Leistungsfähigkeit seiner Anlage zu demonstrieren – nahe des Anschlags gebracht. Doch ich meine, auch bei Zimmerlautstärke, noch ein missbilligendes Gemurmel aus der Küche vernommen zu haben. Immerhin wurde es uns gestattet, die neue Errungenschaft mehrmals hintereinander abzuspielen.
Zwei der drei anderen Lieder waren für mich ebenfalls ein Hammer. „Little by little“ und „Poison Ivy“. Lediglich „Stones“, eine Nanker-Phelge-Stück, Eigenkomposition der Stones unter Pseudonym, fiel ein wenig ab. Wahrscheinlich, weil es im Grunde nur Instrumental war. Lediglich vier total lasziv vorgetragenen Kurzeinsätze des Sängers rissen das Stück raus. „Stones“, „Outa my mind“, „A yeah“ und „With my yeah“, war alles was in den 2 Minuten 10 ins Mikrophon geknetet wurde. Doch das kam suuuuper. Wusste bloß nicht, wer da eigentlich knetete. Wer wer war. Zwar war hinten auf dem Cover ein Foto – drei standen, zwei hockten vor einem Zaun – doch ohne Hinweis blieb nur mutmaßen. Internet war noch weit, weit weg. Telefon, einfach mal jemanden Anrufen, gab’s auch nicht. Also setzte ich auf den in der Mitte. Dass ich damit Recht hatte, sollte sich bald bewahrheiten. Aber zunächst schnürte ich erst mal nach Hause.
„Fredi, wo warst Du denn so lange?“ – „Ich war noch bei Fred.“ – „Und was hast Du da?“ – „Och, zwei Platten.“ – „Hast Du was gegessen?“ – „Ja, ’n Brot bei Fred.“ Ende. Keine Frage, was für Platten? Kein, zeig’ doch mal her. War mir im Grunde ja auch ganz recht. Doch im Nachhinein muss ich sagen, dass ein wenig Interesse auch nicht geschadet hätte.
Bernd Bauer im Heim
Falsch. Bernd Bauer ist nicht in irgendein Heim gekommen. Er ist in ein Heim gegangen. Ganz freiwillig. Ins Haus der offenen Tür, das wir Heim nannten. Es war nächst dem zu Hause von (lechz) Uschi gelegen. Es veranstaltete bisweilen Tanzabende. Die Kids aus der Gegend kamen. Ich auch. Man wollte sich amüsieren. Ich auch. Doch vor allem wollte ich Uschi treffen. Ich auch. Doch Uschi war nicht da. Statt ihrer war Bernd Bauer da. War ein hübscher Bub. Damals. Hab‘ mit Buben nix weiter am Hut. Aber wenn ich da was seh‘, muss ich es auch äußern. Bernd hatte schlicht bildschöne Wimpern. Das fiel nicht nur mir auf. So tanzte er ausgiebig zu „It’s off the hook“. Das Tanzen hatte zwar eher was von Square-Dance – hopsen im Viereck – doch selbst das traute ich mich damals nicht. Stand nur da und guckte, lugte, ob nicht denn doch Uschi hereinschneien würde. Sie schneite nicht. Obwohl sie mir doch jüngst eine kleine Lektion in Handarbeiten mit Kupferdraht verabreicht hatte. Allein mir. Auf der Quäkerwiese. Nächst dem Heim gelegen. Ums Eck, wo sie wohnte. Aber ach. Wollte gar mal ins Heim eindringen als es geschlossen war. Nachschauen, ob Uschi vielleicht doch dort ist. Nun, das Unterfangen kostete mich ein paar Nickel meines Ersparten.
Beatles vs. Stones – Part 1
Auf dem Schulhof brodelten die Debatten, wer denn nun besser sei. Die Beatles oder die Rolling Stones. Für mich war es klar. Die Stones. Doch trotz karger Barschaft, erwarb ich zunächst eine Scheibe der Beatles. A Hard Days Night. Warum wohl? Nun, es war ähnlich wie beim Waschmittel. Trotz aller Individualität, will man doch irgendwie dazu gehören. Und dann entscheidet man sich eben für das, wo man weiß, was man hat. Persil. Tja ja, der Gruppenzwang.
Ich erinnere da noch ein Gespräch mit meinem Vater. Ich befand mich in seinem selbstgebauten Mehrzweckmöbel. Einer Sitzbank, die auch als Badewanne genutzt werden konnte. Kurzum: Ich badete. Das Radio war an. Es lief Musik. „I wanna hold your hand. I wanna hold your hahahand.“
Vater kam in die Küche – dort befand sich die Sitzbankbadewanne – ich war gut drauf und meinte: „Nicht schlecht, was?!?“ – „Was?“ – „Na, die Musik. Sind die Beatles. Stehen aktuell in den Hitparaden ganz oben.“ – „Musik? Das ist keine Musik! Das ist doch nicht zum Anhören. Das hat doch keinen Bestand. Die sind schnell vergessen“, raunzte er allwissend. Im nächsten Moment war er verschwunden, und ich jodelte, damals halt noch Beatles, weiter.
Etwa zehn Jahre später besuchte ich meine Eltern. Sie wohnten in einem anderen Stadtteil, aber letztlich nicht weit weg. Es gab keinen besonderen Anlass für den Besuch. Es geschah einfach so.
Mein Vater, vom Rotwein beseelt, summte stimmungsvoll vor sich hin. Er spielte Musik von einer Kassette, die er auf einem Rekorder aufgenommen hatte. Ich lauschte kurz und erkannte, dass es „Yesterday“ war. „Ach was“, dachte ich. Da summt der alte Herr doch tatsächlich einen Beatles-Song.
Klar fiel mir sofort sein Gerede von vor Jahren ein. Manche Menschen meinen, ich hätte ein unglaubliches Gedächtnis. Egal. Ich fragte ihn jedenfalls: „Weißt Du, was Du da summst?“ – „Was ich was, summe? Ne, das kann ich Dir nich’ sagen, mein Junge. Is’ irgend so ein alter Schlager. Erinnert mich daran, als wir damals nach Griechenland fuhren.“
Es stimmte. Einst reisten wir nach Griechenland. Wir hatten das Autoradio an und es lief „Yesterday“. Es passte zur Stimmung, passte zur Landschaft – die Melodie brannte sich in Vaters Gedächtnis ein. So summte er – und summt immer noch – das Lied einer Band, die, seiner Ansicht nach, keinen Bestand hatte.
Hey, das ist ja Porno
Nach ‚Around und Around‘ erschien in Deutschland die Rolling Stones Nr. 1 – macht absolut keinen Sinn – aber egal. Einer der Titel der Elpee war ‚I’m a King-Bee‘. Norbert Bleicher – wir saßen zusammen am Klassentisch – hauchte diverse Zeilen des Songs in Waltraud Engelkes Ohren. „Well I’m a king-bee. Buzzing around your hive. Together we could make honey. Let me come inside.” Waltraud gluckste und glubschte mit ihren Augen. Ich verstand wieder mal gar nix. Doch als ich – erheblich später – des Englisch besser kundig, verstand ich. Nochmals erheblich später spielte ich ‚I’m a King-Bee‘ meiner Tochter – bereits in frühen Jahren etliches besser des Englisch kundig als ich – und sie kommentierte sogleich: „Hey, das ist ja Porno.“ – „Joa. Is‘ ein Grund, weswegen ich die Stones mag“, erwiderte ich.
Meine Nummer 1 war die Nummer 2
Wie zuvor erwähnt, war meine erste gekaufte Stonesplatte die Nr. 2 der Herren Stones. Womit ich sie kaufte? Berechtigte Frage. Denn weder war Irmi inzwischen zu Besuch, noch spross das Unkraut in genügendem Maß zum Geld verdienen. Erneut in Vaters Münzkollektion greifen, wollte ich auf jeden Fall vermeiden – schließlich drohte das Heim. Was immer das sein mochte.
Damit der Erwerb der Platte dennoch realisiert werden konnte, verkaufte ich kurzer Hand – meine Schwester war einverstanden – den Plattenspieler von Bertelsmann. Bekam 20 Mark dafür. 18 Mark kostete die Elpee. Die Differenz wurde in Jöst-Cola, eine ähnlich der Coca-Cola schmeckende, lokale Variante, investiert. Ergab satte 8 Flaschen, statt 4 fürs Original.
Den Elac meines Vaters hatte ich zwischenzeitlich „getunt“. Er lief jetzt tatsächlich auf den Touren die es brauchte, um eine Platte adäquat abzuspielen. Und so verbrachte ich die folgenden Wochen – im Anschein unbändigen Lernens – am Schreibtisch meines Vaters.
Schulisch gesehen, war ich zu dieser Zeit – wie eigentlich immer – grottenschlecht. Blaue Briefe der Schule, diese Hinweise des im Grunde nicht versetzungsfähigen, lagen wie unliebsame Reklamesendungen in unserem Briefkasten. Regelmäßig. Klar belastete das meine Eltern. Ich hatte mich auf die Hinterbeine zu stellen, sollte pauken, büffeln oder wie sie es auch immer genannt haben mögen.
Demgemäß erfreute der Anblick von Fredi am Schreibtisch entsprechend. Doch statt zu pauken, war mein Ansinnen lediglich, die Platte – ohne großes Tohuwabohu – zu wenden.
„Everybody needs somebody to love“ hörte ich over and over und erkannte somit sofort, dass auf der ‚Rolling Stones Now!’ eine andere, schlechtere Version zu hören war. Doch vielleicht lag’s nur daran, dass ich die von der Nr. 2 zuerst gehört hatte. Wer weiß. Jedenfalls hatte die Version von den ‚Blues Brothers‘ – Jahre später gehört – null Chance. Kein Wunder, wenn man Stones mag, was?!?
Zeitgleich bekam Willi Wintgen, einst ein guter Freund, seine NSU Quickly durch eine Kreidler Florett ersetzt. Für mich war das dahingehend erfreulich, weil die Kreidler mit einer Sitzbank ausgestattet war, und Willi mich ein ums andere Mal mitgenommen hat.
Moped war für mich nicht erlaubt. Zu gefährlich. Doch wenn Mutter gewusst hätte, wie Willi so durch die Stadt gepflügt ist – Helmpflicht war damals noch nicht – sie hätte mir gewiss ein Zweirad zugestanden – vom Pekuniären mal abgesehen.
Schlechte Noten, Harald Mulch und 50 Mark
Über die schlechten Noten muss nicht weiter referiert werden. Das ist ja nun allseits bekannt. Neu hingegen ist, dass ich zur Verbesserung der Lage bereit war, einige Schautafeln fürs Klassenzimmer zu schaffen.
Seltsamer Weise waren Harald und Willi, beide wahrlich nicht versetzungsbedroht, mit von der Partie. Womöglich dachte sich Frau Scherpner, die Klassenlehrerin, dass es nicht schaden könne, mir ein wenig professionelle Hilfe anzudienen.
Entschieden haben wir uns letztendlich für Schautafeln übers Orchester und das Fernglas. Bei der Auswahl hatte ich nicht so das Sagen. Doch als es ums Gestalten ging, fand ich sehr wohl Gehör.
„Guckt Euch doch mal an, was da sonst so hängt. Eins wie’s andere.“ – „Hm“ – „Also lasst uns was machen, das ein wenig absticht. Lasst uns Fluorfarben verwenden.“ Harald und Willi zögerten. Ich, tags drauf, besorgte die Farben. Und nach einem demonstrativen Pinselstrich waren sie einverstanden.
Nochmals ein oder zweit tags drauf, begann das Realisieren. Unmittelbar nach der Schule steuerten wir Haralds Wohnung auf. Des Wegs holten wir noch bei Willi sein Kleinkalibergewehr war ab. Dann machten wir uns auf in die Gutleutstraße.
Mitten auf der Camberger Brücke registrierte ich, dass ich die fluoreszierenden Farben nicht dabei hatte. „Geht schon mal vor. Ich komm‘ dann nach.“ – „Okay.“
Ich flitzte heim, griff das Erforderliche, und machte mich auf den Weg zu Harald. Er wohnte im Gutleuthofweg. Nummer 4, glaub‘ ich. Lag jedenfalls direkt am Main. Ein kurzes Klingeln und schon war ich wieder dabei.
Wobei? Das frag‘ ich mich auch. Willi visierte gerade eine Ente an, die sie kurz zuvor im Strandbad Niederrad angeschossen hatten. Nämliches Bad lag unmittelbar gegenüber von Haralds Zimmer. Bloß auf der anderen Seite des Mains, der an dieser Stelle doch beachtliche Meter breit war.
Willi zielte und traf mit dem ersten Schuss. Die Ente hörte auf zu schnattern, lag mausetot auf dem Rasen, unweit der Stelle, wo Uschi, ihre Busenfreundin Gitti und ich, uns unlängst noch verlustierten.
Harald, cool wie immer, meinte daraufhin: „Du hast übrigens was verpasst“. – „Hä?“ Und er parlierte weiter, dass er und Willi, kurz nachdem ich, zurück die Farben holen ging, 50 Mark gefunden hätten.
Klar, ob meiner spärlichen Barschaft-Verhältnisse, startete ich das Jammern. Und Harald, damals schon Lenin mögend, schlug vor, 5 von seinen 25 Mark abzugeben und wenn Willi denn ebenfalls dazu bereit wäre, ich ja auch einen stattlichen Anteil am Fund hätte. Immerhin 10 Mark.
10 Mark. Einfach so? Geil! Ich deponierte die Farben, meinte, dass sie (Harald und Willi) ja schon mal anfangen könnten und machte mich zurück über die Camberger Brücke, auf den Weg in die Mainzer Landstraße.
Dort gab es, unweit von Uschis Wohnung gelegen, einen kleinen Elektroladen, der gut und stets aktuell mit Platten sortiert war. Kaum drinnen, formulierte ich mein Begehr und machte mich, mit einer kleinen Einkaufstüte bestückt, wieder zurück in den Gutleuthofweg.
Ich war überglücklich. Hatte ich doch gerade ‚Satisfaction‘ erworben. Als erster in der Klasse. Hey, vielleicht war doch noch was mit Uschi zu löten?!?
Vielleicht war ich wirklich der Erste. Doch es gelang mir einfach nicht, mir das erhoffte Gehör zu verschaffen. Vermutlich waren andere mit der Bedeutung rund um das Wörtchen ‚Satisfaction‘ längst besser vertraut als ich. Einziger Trost: Die Schautafeln wurden, wohl auch wegen der fluoreszierenden Farben, mit einer glatten Eins benotet. Judeldö!
Pistazieneis und Banana Split ohne Ende
Freilich gab‘s außerschulisch auch so manche Kontakte. Allen voran den mit Dieter Abrecht – dem Sohn des Canasta spielenden Ehepaars – Freddy, Marschmusik und so.
Als kleiner Bub saß ich bei Dieter auf dem Schoß und er erklärte mir die Bildtafeln des Meyers Konversationslexikons. Verstand zwar nix, doch ich genoss die Nähe. Dieter war sozusagen ein Vaterersatz für mich. Denn mein Vater hatte doch arg wenig Zeit für mich.
Klar, samstags zog er bisweilen mit mir durch die Stadt, erklärte allerlei historisches, was mich nicht so sonderlich interessierte. Er baute mir – eher sich – eine Modell-Eisenbahn-Anlage. „Nichts anfassen, Fredi!“ Er schenkte mir einen Stabil-Baukasten. Einen Metallbaukasten. Die meines Erachtens edlere Variante des bunten Märklin-Zeugs. Doch wenig später wurde ich zweier linker Hände bekundet, und er nutzte das System, um Konstruktions-Entwürfe für Brötchen-Automaten auszuprobieren.
Die Bau-Anleitungen dieses Stabil-Baukasten versprachen kühne Kran-Konstrukte. Der Inhalt ermöglichte spartanische Umsetzungen, etwa einer Gartenbank oder denn dann doch, eines Autos.
Doch mehr noch störte mich die, gelinde gesagt, emotionale Armut, mit der sich das mit mir Befassen erfolgte. Wobei mein Vater im Grunde ein höchst emotionaler Mensch ist.
Einmal spazierten wir zum soundso Weiher. Er, unterm Arm, ein selbst gebautes Segelschiff. Ein anmutiges Teil. Stolz ließ er das Stück zu Wasser, beobachtete das sanfte Gleiten über die Wellen und war sogleich erschüttert, als das Boot, mitten im Weiher, stecken blieb.
Er krempelte die Sonntagsanzughosen hoch, stakste in die See und barg das Boot. Schaulustige rings herum. Doch keiner ließ sich etwas anmerken. Lediglich ich musste Lachen. Situationskomik halt.
Wer nicht mitlachte, war mein Vater. Er donnerte mir stattdessen eine Lektion um die Ohren, die sich gewaschen hatte. Das Schwänzchen eingezogen, trottete ich brav mit ihm nach Hause.
Nun gut. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei Dieter. Mit ihm war vieles anders. Seine Schwester wanderte in den frühen 50ern nach Kanada aus. Das traf ihn damals sehr. Sehr oft hörten wir das Lied von Willy Hagara: „Casetta in Canada“. Textzeile: „Wir jagen dort nach Bären, denn es sind so viele da“.
Längt ist Dieter ebenfalls nach Kanada ausgewandert. Doch damals, nach Lexikon, nach ausgiebigen Fahrradtouren im Stadtwald, vor irgendwelchen Mädels, widmeten wir uns den Schallplatten.
Dieter, einiges älter als ich und bereits über ein geregeltes Einkommen verfügend, nahm mich samstags mit zum Platten gruscheln. (Schwäbisch für kramen). Wir klapperten einschlägige Stationen ab. Er suchte – ich weiß es eigentlich gar nicht, was – ich suchte nach Decca.
Decca war das Label bei dem die Stones unter Vertrag genommen wurden, nachdem der Verantwortliche die Beatles zuvor abgelehnt hatte. Ha, ha.
Doch trotz intensiven Stöberns fand ich keine ein Decca-Single, auf der auch Rolling Stones erwähnt wurde. Traurig, traurig.
Immerhin fielen mir bisweilen fremdländisch klingende Interpreten auf. So zum Beispiel Chuck Berry. Wusste, weiß Gott nicht, dass der essentiell die Stones beeinflusst hatte, riet Dieter lediglich, diese Platte ebenfalls mitzunehmen.
Dieter nahm. Mit einem ordentlichen Packen Platten bestückt, strömten wir nach Hause und starteten das Anhören.
Little Jo Ann war dabei. Released on Kapp. My Daddy is a President, lautete der Titel. Ein kleines Mädchen sang, dass sie in a big white house lebte und hide and seek with secret service men spielte. Funny in a way. Aber eben nicht die Stones.
Dann legten wir Berry auf. Mad Lad, so der Titel. Anschließend verbrachten wir eine gute Stunde damit, zu prüfen, was denn nun mit dem Plattenspieler nicht stimmte. Die Platte eierte und eierte, klang gänzlich verzerrt. Dass es so gewollt war, ward ich erst Jahre später gewahr.
Neben Platten gruscheln, Blindgängern nach Neujahr suchen und finden und Tischtennis am Küchentisch – mit Brotbrettern spielend – lernen, vergnügten wir uns auch ausgiebig mit Minigolf – es gab da eine herrliche Anlage in der heutigen Commerzbank-Arena, die es, seitdem sie so heißt, nicht mehr gibt.
War ‘ne schöne Zeit mit dem Kerl und genoss, nicht nur mangels Masse, die Stopps im Stadtwald, um bei den Fahrradtouren Onkel Tom und Limo zu tanken, sondern auch die Gänge zum, nahe Uschis zu Hause gelegenem, Eissalon.
Er zählte zu den ersten in Frankfurt, hatte stets die aktuellen Eissorten im Fenster und eine Musikbox im Gastraum.
Pistazieneis war die neueste Sorte. Paint it black, war die neueste Platte. Mann, was ich da an Kalorien reingezogen hab‘ – Banana-Split kam auch gerade in Mode – und Groschen in die Musikbox steckte!?! Echt, bis zum Abwinken.
Koppi und die Lamentations 5 ½
Koppi, offiziell, Werner Koppmeier, war in der Schulzeit ebenfalls einer meiner guten Freunde. Wir schätzten die genialen Comics von Carl Barks in Micky Maus, hatten ein gekürzeltes Sprachgebaren, wie ich es später nur noch mit Jochen Beithan erlebte, und wir näherten uns gemeinsam der Musik.
Koppi hatte einen älteren Bruder. Ich nicht. Koppi hatte ein Tonbandgerät. Ich nicht. Mit dem Tonbandgerät zeichnete er Musik auf. Start- und Stopptaste drückend, ohne dass da blöde Kommentatoren zu hören waren. Selbst wenn ich das Gerät dazu gehabt hätte, ich hätte es nicht getan. Hätte schlicht keinen Nerv dazu gehabt.
Doch Koppi hatte noch zu mehr Nerv. Er wollte Musik machen. Er lernte Schlagzeug, ohne Schlagzeug. Töpfe und Tiegel dienten ihm zum üben. Verfeinert wurde das Ganze mit metallenen Platten. Eine gewisse Perfektion entstand. So perfekt, dass eine Band gegründet wurde.
Die Band hieß ‚The Lamentations‘. Wer im Einzelnen noch mitwirkte, weiß ich gar nicht mehr. Weiß nur noch, dass Hans Krahl dazu gehörte. Der spielte bereits in frühen Jahren begnadet gut Gitarre – wenn auch er eher die Beatles mochte.
Irgendwann war jedenfalls wieder mal ein Klassenfest angesagt. Angekündigt wurden die Lamentations 5 ½. Klar, dass die Jungs sich Lamentations 5 nennen, in Anlehnung an Dave Clark Five. Doch wer war ½ ?
Es stellte sich raus, dass ½ eine Reminiszenz an die allseits begehrte Uschi war. Sie wirkte zwar nicht mit, wurde aber zumindest erwähnt. Zu hören bekamen wir ein geiles 19th Nervous Breakdown. Einen erneuten Nummer-Eins-Hit der Rolling Stones. Was will man mehr?
Simonetta Cupari und ihr ‚Heart of Stone‘
Schule hin, Schule her, zum Glück gab’s auch immer noch Ferien. Besonders die im Sommer waren von Begehr. Denn wir reisten nicht mehr nur nach Wernigerode oder Wangerooge oder mit Theo, einem gern gesehenen Hausfreund, an irgendwelche Kriegsschauplätze, die vor allem für meinen Vater von Interesse waren, nein, diesmal fuhren wir erstmals im eigenen Auto und unter eigener Regie in Urlaub.
Klar wurde das Abenteuer gründlich geplant. Landkarten wurden gekauft, Konserven wurden erstanden, hauptsächlich Ravioli und Spaghetti-Gerichte von Maggi, und dann ging’s los. Gen Italien.
Kein Quatsch. Meine Eltern haben tatsächlich diese Fertiggerichte eingepackt und die Eulen nach Athen getragen. Mit dabei waren auch Kaffee – kann man verstehen, man hat ja so seine Geschmacksgewohnheiten – und vergleichbar alltägliches, wie Zucker und Salz.
Okay, ich war zuvor noch nicht in Italien. Doch irgendwie dacht‘ ich mir, dass es das ja wohl auch dort geben musste. Egal.
Jahre später erfuhr ich, dass Jahre zuvor, Leute mit einer Lambretta (Motorroller) nach Italien gebrettert sind. Zwei Erwachsene, reichlich Gepäck und hinterm Lenker stehend, das Kind.
Muss eingestehen, dass ich so nicht reisen mochte. Doch selbst im DKW war das Unterfangen nicht ohne. Denn er hatte Wasserkühlung. Bei den Alpenpässen passierten uns aufwärts gar manche VWs. Und bergab das gleiche Bild. Denn der DKW hatte eine Halbautomatik. Motorische Bremswirkung gleich Null.
Nun, wir schafften es dennoch. Pfirsichkisten links und rechts der Landstraße und Melonenstände ohne Ende empfingen uns. Dann ein Campingplatz in einer Region, in der es, gelinde gesagt, sehr heiß war.
Das Trinkwasser war von weit her zu holen. Das Meerwasser, das mochte meine Mutter genießen, war noch weiter weg. Wir packten die Sachen und starteten durch. Grobe Richtung Adria. Da hatte Mutter ein Bekannte, die kürzlich nach Italien ausgewandert war.
Sie lebte Nahe Porto Recanati. Doch bis dahin zog’s sich. Ich vertrieb mir die Zeit, ein wenig italienisch zu lernen. Zunächst die Zahlen. Une, due, tre. Ergebnis: Ich hatte fortan einkaufen zu gehen oder zumindest beim Einkauf dabei zu sein. Denn Cinquecentocinquanta verstand nur ich.
Viele, viele Kilometer später – Autostrada war noch nicht – erreichten wir Recanati. Und ein paar Steinwurf später den Campingplatz von Porto Recanati.
Es war bereits Nacht. Der Campingplatz war zu. Wir platzierten uns vorm Tor, und ich nächtigte erstmals unter freiem Himmel. Geiles Erlebnis.
Morgens drauf wurde uns ein Platz zugewiesen. Mit Blick aufs Meer. Vater traf – der Zufall will’s – Herrn Leonberger, einen Mitarbeiter in seiner Firma. Mutter traf, wie vorgesehen, Frau Mühe. Und ich traf Daniela.
Daniela war ein absolut quirliges Teil. Einfach so. Wir trafen uns abends am Strand. Sie hatte einen dieser transportablen Plattenspieler dabei und jede Menge Platten. Singles, versteht sich. Darunter Elvis Presley, doch wichtiger, all‘ diese italienischen Schlager.
Casa Bianca, war einer davon. Wieder zu Hause kaufte ich die Platte einer Pizzeria ab. Doch damals gab’s noch mehr. Denn plötzlich tauchte am Strand Simonetta auf.
Sie war blond, hatte, wenn man sich’s denn einreden wollte, eine gewisse Ähnlichkeit mit Uschi, ihr Vater – auch nicht unwichtig – fuhr einen Alfa Romeo Giulia, kurz: Ich war hin und weg.
Logo kam ich mit une, due, tre nicht weiter. Doch zum Glück gibt’s ja auch eine nonverbale Art der Kommunikation. Mit den Augen und so. Und das funktionierte bei uns recht gut. Es durfte näher gerückt, ein wenig gezärtelt werden. Dann war ich wohl irgendwie zu nahe.
Simonetta wandte sich ab, ging zu ihrem Zelt und ließ mich mit den Adriawellen alleine. Was tun? Ich klaubte am Strand einige Steine zusammen, steuerte das Zelt von Simonetta an und platzierte das Strandgut in Form eines Herzens direkt vor dem Eingang. Heart Of Stone.
Tags drauf kauderwelschten wir an der Campingplatz-Bar. Sie dementierte. Nein, sie habe kein heart of stone. Ja, sie kenne die Rolling Stones. Ja, sie würde mich mögen, doch morgen würde sie nach Hause fahren. Nach Perugia. In den Ort, in dem ‚Baci‘, das hierzulande inzwischen bekannte Ferrero-Küsschen produziert wird. Mei, war ich traurig.
Können rollende Steine Halt geben?
Ja, sie können. Wenige Tage nach Simonetta fuhren auch wir nach Hause. Nochmals wenige Tage später waren die Ferien vorbei. Und wenige Monate später endete gar die Schulzeit.
Klar erwarb ich zuvor noch ‚Out of our Heads‘, öffnete zu Weihnachten ein Geschenk im Elpee-Format und ruinierte die andächtige Stimmung mit ‚December’s Children‘, doch das ganze Abschied nehmen nahm mich schon irgendwie in Anspruch. Zumal ich absolut keine Idee hatte, was ich denn nun nach der Schule tun sollte.
Vater hatte eine Idee. Er meldete mich auf der Steinhöfel-Schule an. Eine höhere Handelsschule, im Rotlicht-Milieu von Frankfurt gelegen.
Die Steinhöfel-Schule war im Grunde eine Ausbildungsstätte für jene, die ohne Mittlere Reife von der Realschule gingen. Ich hatte diesen Grad mit Ach und Krach geschafft. Was also, sollte ich da?
Das Rotlicht-Milieu kannte ich vom Durchstreifen. Doch ich war noch grün hinter den Ohren. Was also, sollte ich dort?
Ich fühlte mich reichlich verloren. Bis die neue Stones-Elpee erschien. J
Werner Hohn und After-Math
Gewiss hatte ich noch lose Kontakte zu den einstigen Klassenkameraden. Uschi ausgenommen. Und es war schön, eines Tages Werner am Telefon Fragen zu hören: „Hast Du schon die neue Stonesplatte?“ – „Ja, hab‘ ich.“
Es folgte ein kurzer Dialog über Mono und Stereo. Werner hatte Stereo zum Abspielen. Ich hatte Mono. Werner hatte die Mono-Version. Ich die in Stereo.
Vor lauter Freude über seinen Anruf, schlug ich vor, dass er doch mal Vorbeikommen solle. Wir könnten ein wenig reden und die Platten tauschen. Wo er doch Stereo hat.
Werner willigte freudig ein. Schon am nächsten Tag tauchte er auf, spielten auf einem nahe gelegenen Bolzplatz Fußball und tauschten Stunden später – außer Atem – die Platten.
Einen Tag später hörte ich die Mono-After-Math und stellte fest, dass da doch ein Song fehlte. Hab‘ die Track-Listen nicht mehr im Kopp, doch es gab da einen dramatischen Unterschied. Die Stereo-Version hatte schlicht mehr Tracks.
„Du, Werner“, am nächsten Tag. „Vielleicht krieg‘ ich ja doch bald einen Stereo-Plattenspieler. Würd‘ die Platte gern wieder zurücktauschen“. – „Okay, übermorgen komm‘ ich vorbei, okay?!?“ – „Okay!“
Uff. Grad‘ noch beigebügelt. Das freute denn doch.
Willi Wintgen und After-Math
Ne, ne, ich wollte nicht nochmals tauschen. Diesmal ging’s nicht um Musik. Es ging um Mädels.
Mit der Steinhöfel-Schule inzwischen ein wenig vertraut, lernte ich dort neue Leute kennen. Einer davon war ebenfalls ein Willi. Aber mit ‚Y‘. Willy Krieg. Gemeinsam eroberten wir nach Schulschluss die Bars im Bahnhofsviertel. Allen voran die ‚Lange Theke‘.
Die „Bar“ zeichnete sich damit aus, dass sie „Schöppche“ (Frankfurterisch für kleine Biere) servierte und einen Flipper hatte. Flippern war bereits zu Zeiten Dieters – die waren leider aktuell nicht aktuell – gern von mir wahrgenommen. Mann, hatten wir / er da schon Geld investiert. Wobei das ‚Plock‘, das ein Freispiel signalisierte, meist von mir verursacht wurde. Ein gewisser Ausgleich, nicht wahr?
In der langen Theke wurde allerdings verschärft geflippert. Das Geld war rar. Die Flipperscheiben waren aus Kunststoff. Eine Nadel wurde per Feuerzeug erhitzt, durchs Flipperglas gebohrt und zielgerichtet auf den Freispielkontakt geführt – so er denn erleuchtet war.
Der Flipper war ein ‚Eight-Ball‘. Hatte so ein Hufeisen, durch das es durchzuschießen galt. Und unter bestimmten Bedingungen leuchtete dann ‚Freispiel‘ auf. Es musste also schon ein wenig Geschick aufgebracht werden, um schließlich Freispiele ohne Ende zu bekommen. Gell.
Doch im Zusammenhang wichtiger war, dass Willy auch ein Mädel eroberte. Er vereinbarte ein Date. Das Mädel hatte eine Freundin. Ich sollte doch mitkommen. Hm.
Klar, es gab gewisse Gelüste. Schließlich war ich ein Bub. Doch obwohl ich ein Bub war, schoss mir zeitgleich durch den Kopf: „was zieh‘ ich da bloß an?“
Ich erinnerte Willi, den mit dem ‚I‘. Er stattete sich seit geraumer Zeit bei ‚Annas‘ aus.
Annas war eine der angesagten Boutiquen seiner Zeit. Bin ebenfalls dort bisweilen schaufenstergebummelt. Einmal, als es regnete wie blöd. Annas hatte überdachte Passagen. Ich wollte nicht nass werden. Fürs glatte Durchgehen stand ein Mann im Weg. Ich klopfte ihm auf die Schulter. Er drehte sich um und lächelte. Es war Karel Gott. Ich grüßte und ging weiter. Lagen denn nun doch wirklich Welten zwischen dem, was er machte und dem, was ich mochte.
Jedenfalls kontaktierte ich Willi, erwähnte meine Überlegungen und freute mich sogleich über seinen Vorschlag, mir was zu leihen.
Ich lieh mir ein typisches 60er-Jahre-Hemd – Jagger hatte so was auf einem der After-Math-Fotos an – dazu eine blauweiß gestreifte Hose. Ich war eigentlich nicht ich. Doch irgendwie schon.
Der Tag des Rendezvous näherte sich. Willy rief an. Er hatte einen alten DKW, einen mit Knickscheibe. „Du, das Auto tut’s nicht mehr“. Gut. Bad Vilbel, dort fand das Treffen statt, is‘ nich‘ so weit weg. Doch Auto wär‘ schon gut.
Glücklicher Weise kannte sich Willy aus. Die Benzinpumpe war defekt. Ein wenig basteln – wenn man’s denn kann – vorausgesetzt das nötige Ersatzteil ist da, wird’s schon richten.
Das nötige Ersatzteil wurde auf einem Schrottplatz gefunden. Willy baute es aus, ging zu Herrn Schrottplatz und erkundigte sich nach dem Preis. Der war immens. Willy lehnte ab. Herr Schrottplatz nahm die Pumpe, meinte, „Dann eben nicht“, warf die Pumpe zu Boden und zertrat sie. Klasse, was?!?
Wie Willy es fertig gebracht hat, seinen DKWupptisch dennoch zum Laufen zu bringen, keine Ahnung. Zum vereinbarten Zeitpunkt zogen wir jedenfalls gen Vilbel, trafen die Besagten, gingen ins nahe gelegene Wäldchen, schmusten auf Bänken und verzogen uns alsbald wieder ins elterliche Haus von Annegret zurück.
Für Annegret und mich begann eine kurzzeitige Liaison. Als sie äußerte, dass sie nicht wollte, war’s vorbei. Wobei wir uns Jahre später wieder trafen und nachholten, was einst nicht ging. Sie kommentierte, dass ich bloß etwas hartnäckiger hätte sein sollen. Als katholisches Mädchen könne man doch nicht einfach so. Nun ja. Die eine so, der andere so. Oder umgekehrt.
An jenem Abend nahm ich jedoch nur Frust und eine Elpee mit. Die Platte höre ich heute noch ganz gerne: ‚Guns and Cowboys‘, mit Jim Reeves, Hank Snow und so. Dass ich die Western-Musik mitnehmen durfte, lag womöglich auch ein wenig an den Annas-Klamotten von Willi. Thanx, mein Lieber!
Beatles vs. Stones – Part 2
Um ehrlich zu sein, dachte ich, dass die Fronten längst geklärt waren. Doch weit gefehlt, wie sich alsbald herausstellen sollte. Nach einem Jahr höhere Handelsschule fand ich tatsächlich erst mal eine Lehrstelle.
Einmal mehr verhalf mir mein Vater dabei weiter. Er machte sich Gedanken, was mir denn liegen könnte und kam auf die Werbung. Als Bub lag ich mal im Krankenhaus danieder – die Mandeln – und addierte, um Angst und Zeit zu überbrücken, endlose Zahlenreihen.
In den folgenden Jahren zeichnete ich mich wohl des Öfteren durch wildes Zeichnen aus. Okay, ich malte ganz gerne. Mal konkret, mal abstrakt, am besten gefiel mir das Surreale.
Vater jedenfalls addierte eins und eins und meinte: „Du solltest Werbekaufmann werden“. Werbekaufmann? Das hatte ich ja noch nie gehört. Klar, mir gefielen diese Werbefilme, die immer von Onkel Otto (Werbefigur des HR) separiert wurden. Aber was hat das mit Werbekaufmann zu tun?
Wie, Sie kennen Onkel Otto nicht? Dann sind Sie womöglich im Schwabenland aufgewachsen. Da hießen die Werbeteiler Pferdle und Äffle. Zu sehen waren sie zwischen halb und acht – so hieß der Sendeplatz ehedem. Und gezeigt wurden leicht verdauliche Krimis oder Abenteuer-Episoden. Zum Beispiel Hans Hass in Abenteuer unter Wasser.
Apropos Wasser. Muss erst mal ‘nen Schluck trinken. Allerdings Bier, ha! Ahhh. Gut, wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, die Lehrstelle.
Dank Vater fand ich eine. Bei der Werbekunst Wolfgang Schulz GmbH einer, nun, nennen wir es mal Werbeagentur. Bis aufs zeitige Aufstehen war so ziemlich alles neu. Neues Umfeld, neue Tätigkeiten, neue Menschen und neue Freundschaften. Letzteres musste sich allerdings erst entwickeln. Doch es entwickelte sich, Dank Jochen Beithan, recht rasch.
Jochen war bereits im zweiten Lehrjahr. Aber wir hatten das gleiche Alter, die gleichen Interessen, den gleichen Wortwitz. Es tat gut, sich oben, im vierten Stock am Cola-Automaten zu treffen, eine subventionierte Groß-Cola für 30 Pfennig zu schlürfen und sich über Musik auszutauschen.
Die Stones waren gerade mit ‚Between the Buttons‘ erschienen. Okay, es war kein richtiger Renner drauf, doch immerhin. Die Beatles drifteten grad‘ mit Seargant Peppers ab, kurz darauf erschien ‚Their Satanic Majesties Request‘. Beide Platten waren ziemlich psychedelisch angehaucht. Doch die Satanic-Stones-Scheibe hatte als erste Platte überhaupt, ein 3D-Bild, so ein Wackelbild, das beim hin und her bewegen das Motiv ändert, auf dem Cover. Okay, okay. Das ist bloß Werbung. Aber irgendwie ging’s uns doch grad‘ um Werbung. Oder wie? Oder was?
Vielleicht mag man sich so einigen, dass die Beatles die besseren Musiker waren und die Stones die bessere Band. Bloß, die Stones gibt‘s immer noch. Ätsch!
Zum Thema Zugehörigkeit, hier noch ein Exkurs. Herr Abrecht, der Marschmögende, wurde zu jener Zeit mit einer goldenen Uhr ausgezeichnet. Für 20 oder waren’s 25 Jahre Mitarbeit bei der Firma soundso.
Dachte damals, dass ich so was nicht mögen würde. 25 Jahre die gleiche Company. Tja, und was feiern die Stones dieser Tage? Ihr 50-jähriges Bühnen-Jubiläum. Hab‘ wohl doch was nicht so richtig gerafft L
Moni meinte: „Let’s spend the night together“.
Monika Leonhardt war ebenfalls Auszubildende bei Wolfgang Schulz. Doch während ich noch mein Zubrot zum Lehrgeld – für ein paar Stunden nach Feierabend gab’s einen Fuffi – mit gelegentlichem Zusammentragen des Werbe-Informations-Dienstes den Schulz herausbrachte, verdiente, hatte Moni längst zum Model avanciert.
Sie war südländisch schwarzhaarig, äußerst lebhaft und Jochen entdeckte sie für eine seiner ersten guten Anzeigen. Das Modehaus Mages wollte einen Entwurf für eine 1/1-Seite in der Tageszeitung haben. Thema waren die aktuellen Popeline-Mäntel. Jochen stellte sich drei Mädels vor, die in besagten Mänteln auf die Kamera zusprangen (Froschperspektive), und dazu schrieb er die Line: „Die Pops kommen“: Passte damals einfach genial.
Eines der Mädels war Moni. Nach dem Shooting schneite sie noch bei einer weiteren Werbe-Informations-Dienst-Zusammentrag-Session rein und fragte, ob ich schon die neue Stones-Single gehört hätte: Let’s spend the night together?
Blöde Frage, dachte ich und fragte: „Warum?“ – „Na, weil der Jagger da deutsch singt“ – „Hä?!?“ – „Ja, der singt da ‚Du bist ‘n geiles Baby‘. Hast Du’s noch nicht gehört?“
Hatte ich noch nicht. Hörte jedoch noch am gleichen Abend in die Single rein. Und tatsächlich, eine Zeile klang genau so, wie Moni es meinte. Hören Sie selbst mal, wenn Sie die Platte griffbereit haben.
Tatsächlich hörte ich Herrn Jagger nur einmal deutsch sprechen. Das war beim bislang letzten Konzert in Deutschland. Mehr oder minder perfekt sprach er: „Es tut uns leid, dass wir letztes Jahr nicht kommen konnten“. Richards hatte seinen Eingriff, nachdem er von einer Palme gestürzt war.
Doch zurück zu Moni. Sie unternahm noch einen zweiten Versuch. „Was machst’n heut‘ Abend?“ – „Nix, warum?“ – „Ich geh‘ ins Bus-Stop – angesagter Platz, einst – da spielt so’n schräger Typ.“ – „Och ne, Du. Will noch zu ‘nem Freund.“
Klasse vermasselt, was? Vor allem, weil der schräge Typ Jimi Hendrix war!!!
Von Flowers und anderen Gewächsen
Bei den Stones lief aktuell nicht allzu viel zusammen. Ein Zustand, den ich sehr wohl kannte. Doch während die Stones einen Sampler veröffentlichten: Flowers, mit ein, zwei bisher unveröffentlichten Songs, lag’s bei mir noch im Elementaren im Argen.
Moni war vergeigt. Dagmar Flath, einst Lehrling, inzwischen Angestellte, und aktuell Weinkönigin irgend eines Dorfes, vermochte ich ebenfalls nicht zu realisieren.
Gingen wir doch damals – auf Anweisung – gemeinsam in den Keller. Inventur machen. Obwohl derartiges eher gegen Neujahr geschieht, hatten wir uns mitten im Sommer damit zu beschäftigen.
Sie trug ein blauweiß gestreiftes Kleid – prinzipiell ähnlich der Hose, mit der ich beim ersten Annegret-Rendezvous bekleidet war – und hatte die oberen Knöpfe, ob der sommerlichen Hitze allesamt geöffnet.
Statt aktiv zu werden, zählte und zählte ich. Unter anderem die Bestände der Plakate, die fürs Kaufhaus M. Schneider – das rasende Männchen mit Paketen unterm Arm, das Jahre lang den Sommerschlussverkauf verkündete. Ich bemühte mich, korrekt zu sein und verstand die Frage der älteren Lehrlinge, als wir zu Mittagspause wieder nach oben kamen, nicht im Geringsten.
„Na, wie war’s“, fragte Jörg. „Wie war was?“ – „Na, mit Dagmar.“ – „Hä?“ – „Ja, habt ihr nicht...? Die legt doch jeden um!“
Mich nicht, dachte ich. Doch mehr noch dachte ich, dass da wohl irgendwie Room for Emprovement war. Und ich entdeckte Jutta. Ebenfalls ein Lehrmädel.
Willi Wintgen, der aus der Real-Schule sprach einst von einem Mädel, dass er kennen gelernt hatte. Er sprach von ihr, sie sei wie ein Reh. Nicht so zart, aber so behaart. Nun, Willi war bei der Bundeswehr. Ich nicht. Arbeitete dieser Tage hart daran, dass es auch niemals der Fall sein möge.
Jutta jedenfalls, war ebenfalls wie ein Reh. So im Erscheinungsbild. Ich sprach sie an. Sie willigte ein. Zu einem Date, so sagt man heute wohl. Ihre Eltern – der Vater, Franke oder Francke, ein mehr oder minder bekannter Illustrator – waren gerade in Urlaub. Aber eine Freundin werde dabei sein, ergänzte Jutta.
So what, dachte ich, kontaktierte sogleich Jochen und sprach mit ihm das Treffen ab. Du kümmerst Dich um die Freundin. Ich übernehme Jutta. Alles klar? Alles klar!
Am vereinbarten Wochenend‘ schnürten wir nach Neu-Isenburg. Per Auto. Ich hatte inzwischen den Führerschein gemacht. War also 18.
Es gab Kerzen, Räucherstäbchen, das volle Programm. Bloß die Vereinbarung funktionierte nicht so recht. Jochen schmuste intensiv mit Jutta. Und ich, verhalten, mit ihrer Freundin.
Einmal mehr war ich gefrustet. Einmal mehr nahm ich als Entschädigung eine Platte mit. Michel Polnareff. Love me, please love me, das Lied gefiel mir.
Tags drauf plagte mich womöglich so was wie ein schlechtes Gewissen. Ich wollte die Platte zurück bringen. Es war Samstag, und Jutta und ihre Freundin waren immer noch beisammen.
In der Früh klingelte ich. Die Tür wurde geöffnet. Ich wurde empfangen. Von zwei, in Bademäntel gehüllte Wesen, die nix darunter trugen. Hey, wo bin ich? Streng versuchend, die offerierten Dreiecke zu ignorieren, begann ich einen auf Konversation zu machen.
Jutta hüllte sich, verbal, in Schweigen. Ihre Freundin war zugänglicher. Sie arbeitete beim Deutschen Fachverlag, nächst der Werbekunst Wolfgang Schulz gelegen.
Wir verabredeten uns für eine der nächsten Mittagspausen, lernten uns kennen, und sie entjungmannte mich. Wir treffen uns heute noch – zum Canastaspiel – oder so. Jedenfalls war sie meine erste Freundin.
That’s how strong my love is
Die Stones sind ja nun ein paar Jahre alter als ich. Weiters nich‘ schlimm. Doch seit ich Marga kennen lernte, fiel mir auf, dass die Stones-Texte stets erst ein paar Jahre später für mich von Belang, von Bedeutung waren. Lag vermutlich auch daran, dass mein Englisch im Laufe der Jahre denn dann doch ein wenig besser wurde, und ich somit mehr verstand. Doch ich meine, es hatte auch was mit dem Gefühl zu tun. Die Jungs waren eben ein paar Jahre weiter.
Erstmals registrierte ich diesen Moment, als Marga mir, nach einem Abend ohne mich, „gestand“, dass sie gestern Nacht einen schlimmen Unfall auf der Isenburger Schneise gesehen hat.
„Ja, was machst Du den nachts da?“ – „Der soundso hat mich nach Hause gebracht. Wir haben zuvor, ja, wir haben zusammen geschlafen. Wollte beim ersten Mal einen erfahrene haben.“ – „Was, Du hast auch noch nicht…?!? Ja, und warum wir nicht?“ Ich verstand gar nix mehr. Fuhr, ja, ich hatte inzwischen den Führerschein, mit dem Auto meiner Eltern nach Hause.
Dort angekommen, frönte ich einigen Stones-Titeln. Ich hörte ‚You better move on‘, lauschte den Worten von ‘Tell me’ und fand mich schließlich in‘ That’s how strong my love is‘ wieder.
Beim nächsten Besuch schleppte ich all‘ die Platten mit und dröhnte ihr die Ohren damit voll. Ihr Vater saß nebenan und harrte, dass da auch nichts Ungesetzliches passierte. Schließlich gab es noch den Kuppelparagraphen.
Keine Bange, es passierte nix. Das fand denn doch bei mir statt. War zwar eher wie bei Lou van Burgs goldenem Schuss – fand den Eingang einfach nicht – doch immerhin fand’s finally statt.
Meine Eltern waren zu jener Zeit eh schräg drauf. Da gab’s einen Freyer, dem gehörte das Haus. Der hatte einen Sohn, namens Freyer – welch Wunder – und dieser Sohn war ein Freier meiner Mutter.
Ich hatte zwar keinen blassen Schimmer von diesem sexuellen Zeugs, doch ich erahnte, dass es da mehrschichtige Komponenten gab. Kurzum: Marga wurde verziehen.
Adriano und Fräulein Hermann
Wie gesagt, den Führerschein hatte ich bereits. Führte dazu, dass ich bei Wolfgang Schulz die Post zur Post und zum Bahnhof bringen durfte – gab da noch diese Express-Sendungen, die direkt am Bahnhof abzugeben waren.
Fräulein Hermann, ein gestandenes Fräulein, beglückwünschte mich als Erste zur bestandenen Führerscheinprüfung. Sie schenkte mir ein Matchbox-Auto, mit den besten Wünschen, dass bald ein richtiges vor der Tür stehen würde. In gleichem Atemzug lamentierte sie darüber, dass ihre Stereo-Anlage nicht mehr so recht funktionieren würde.
Nun, ich kannte Willi noch. Und der kannte sich mit so was aus. Gemeinsam suchten wir Frl. Hermann, sie legte Wert darauf, so angesprochen zu werden, nach vorheriger Vereinbarung auf. Sie empfing uns in einem lässig, sehr lässig übergeworfenem Hausmantel und war sichtlich enttäuscht, dass wir nicht adäquat reagierten.
Als Lohn fürs Bemühen hatte sie eine Platte für uns / mich parat. Die erste Single in Deutschland erschienene Single von Celentano: ‚Una Festa sui Prati“. Kannte ich nicht, mochte sein Bild auf dem Cover nicht – hatte so gar nix von Jagger – bedankte mich aber trotzdem brav.
Zu Hause hörte ich dennoch kurz rein und war sogleich begeistert. Wie bekannt, mochte ich dank der Zugehörigkeit meiner Schwester zu Bertelsmann so ziemlich alles, was musikalisch ansprechend gut rüberkam. Und dieser Adriano kam sau gut rüber. Nahm mir fest vor, mich bei nächster Gelegenheit nochmals herzlich zu bedanken.
Norwegian Wood mitten in Frankreich
Was das eigene Auto betraf, so musste sich Frl. Hermann jedoch noch ein Weilchen gedulden. Hatte zwar so viel Geld wie noch nie, lieh mir aber lieber, was ich zum Fahren brauchte. Meist den DKW meiner Eltern – gelegentliches Weißwand-Reifen-Schrubben als Ausgleich – und manchmal ein Fahrzeug aus meinem wachsenden Dunstkreis.
Dazu gehörte dringend auch einmal Edda Heim. Edda arbeitete ebenfalls bei der Werbekunst. Sie war so alt wie meine Schwester – sechs Jahre älter also – klebte sich, als erste Tat im Büro, immer ihre künstlichen Wimpern an und ließ sich von Jochen oder mir als nächstes einen Flummi holen.
Flummi war ihre Bezeichnung für eine Rindswurst – immerhin eine Original Gräf-Volsing – die sie zusammen mit einem Kaffee, so stark, dass selbst dieses stattliche Würstchen darin stehengeblieben wär‘, verzehrte. Die Wartezeit überbrückte sie mit ein, zwei Gauloises – ohne Filter. Das war ihr Frühstücksritual. Edda war echt ein herbes Teil. Sie kannte und verkehrte mit Hamlet, einem Frankfurter Freak, der über Jahrzehnte dabei war und fuhr einen Renault 8.
Diesen Renault lieh ich mir einmal übers Wochenend‘, weil meine Eltern mit ihrem Auto unterwegs waren. Grund: Willi Wintgen, mit dem ich immer noch Kontakt hatte, feierte in Bad Orb ein Fest und Marga und ich sollten dabei sein.
Bereits auf der Hinfahrt platzte der Kühlschlauch. Eine Tankstelle reparierte für schlappe 8 Mark, die mir Edda sogar am Montag zurückerstattete. „Hätte ja auch mir passieren können“, meinte sie.
Die Festivität fand auf einem Acker statt. Viele hatten Zelte dabei. Marga und ich nicht mal eine Decke im Auto. Wir blieben bis kurz nach Mitternacht, fuhren mit durchdrehenden Reifen – nasse Wiese – nach Frankfurt zurück, vergnügten uns ein Weilchen und waren zum Frühstück wieder in Bad Orb.
Ja, das machte noch Spaß damals. Ein wenig durch die Lande fahren. Dabei rauchen. Das ging ehedem noch ohne einen Kleinkredit aufzunehmen. Will nicht davon reden, dass die Brötchen nach dem Krieg nur 3 Pfennige kosteten. Aber mal ehrlich. So viel Steuern auf Sprit und Kippen, bloß um paar blöd palavernde Politiker zu finanzieren, ist doch echt bescheuert.
Jochen jedenfalls, der noch keinen Führerschein hatte, kaufte kurz darauf ein Auto. Einen Opel Olympia für 200 Mark. Diesen Opel durfte ich dann fahren. Und er fuhr. Ohne groß zu überlegen machten wir uns auf den Weg nach Frankreich. Jochen seine Gitarre im Gepäck. Ich, Marga. Mitten in der Pampa machten wir eine Pause. Jochen intonierte gekonnt Norwegian Wood – er spielte ohnehin in einer Band – ich vergnügte mich mit Marga. Für einen Moment hatte ich die Stones vergessen.
Beggars Banquet unterm Tannenbaum
‚Sympathy for the devil‘, ‚Street fighting man‘, Salt of the earth‘, da war Pfeffer drin. Konnte mit den Texten zwar erst mal wieder nix anfangen. Doch das sollte sich ändern.
In den 68ern wurde nicht nur in Frankfurt viel demonstriert. Weiß gar nicht gegen was. War kein ‚Street fighting man‘. Mochte mehr Musik und Mädels. Fuhr mit Dieter ans Cap gris nez‘, nach Frankreich. Da war ich als Bub mal und fand’s imposant.
Wir nächtigten im Auto. Einem Ford 12 M. Der nächste Morgen war regenverhangen. Ein Regenbogen zeigte sich über dem Meer. Entdeckte ihn gleich nach dem Aufwachen – wann sonst? – und summte unvermittelt: ‚She’s like an rainbow‘. Ich dachte an Marga, obwohl sie nicht so sonderlich viel von einem Regenbogen hat.
Kurzum: Ich war wieder mal ein paar Jahre später mit den Stones-Texten im Einklang. Bei ‚Beggars Banquet‘ ging mir das nicht anders.
‚No expectations‘ konnte ich ein paar Jahre später auch ein wenig nachempfinden. Hatte grad einen BMW nach Persien gebracht. Die Rückreise per Bahn – fliegen ist nicht – stellte sich etwas schwieriger als geplant heraus. Jede Stunde, jede Klasse, ehedem ein Werbespruch der DB, war auch nicht. Einmal pro Woche ging ein Zug, und der war weit im Voraus ausgebucht.
Der Verkauf des BMW brachte schon keinen Gewinn. Weitere Kosten galt es zu Vermeiden. Zudem lockte das heimische Weib und beim ortsansässigen war auch kein Weiterkommen.
Als der Zug endlich anrollte, lehnte ich aus dem Fenster und summte vor mich hin: ‚Take me to the station and put me on a train, I’ve got no expectations to pass through here again‘. Wahrlich schöne Lyrics. Doch sie wirkten, wie gesagt, meist erst Jahre später. Einzig der Sound der Stones haute sofort rein. Und der stammte samt und sonderlich von ‚Beggars Banquet‘.
Erinnern sie noch ‚Beggars Banquet‘? Das weiße Album der Stones. Es lag, einmal mehr dank Dieter, bei uns unterm Weihnachtsbaum. Stimmungsvoll verpackt, doch verräterisch im Format. Wie will man eine Elpee auch neutral verpacken, ohne einen Pizza- oder Umzugskarton zu verwenden?
Ohne genaueres zu Wissen, ahnte ich, dass es sich um eine Stonesplatte handeln müsse. Dem Geschenkpapier keine sonderlich Aufmerksamkeit widmend, zerriss ich es. Zum Vorschein kam das weiße Cover mit schwarzer Schreibschrift drauf. Sah sehr gediegen aus.
„Oh, was für eine schöne Platte,“ O-Ton Mutter. Als ich das Cover aufklappte, war doppelseitig ein mittelalterlich anmutendes Stones-Gelage zu sehen. „Um Gottes Willen“, stieß Mutter hervor, ohne dass sie in irgendeiner Weise bigott ist. Ist bei ihr schlicht ein Ausdruck negativ besetzten Erstaunens. Vater horchte auf, ich las den ersten Titel vor: ‚Sympathy for the devil‘.
„Was heißt das, Fredi?“ – „Sympathie für den Teufel“ – „Um Gottes Willen“. Vater vervollständigte den kurzen Dialog mit einem kategorischen, „Das hören wir aber jetzt nicht an“. Erstmals ward mir klar, warum es nicht nur Heiligabend, sondern auch den 1. und den 2. Weihnachtsfeiertag gibt. ‚Huh, huuh‘, war dieses Fest des Öfteren im Hause zu hören.
Jean-Luc und die Stones
Herr Godard, ein absoluter Avantgarde-Regisseur, widmete der Teufelssympathie noch im nächsten Jahr einen Film: One plus one. Der Film wurde, warum auch immer, erstaunlich zeitnah, im Fernsehen gezeigt. Marga wies mich wohl darauf hin. Sie hat stets ein Auge für dergleichen, und sie mochte zudem Godard.
Einmal musste ich mir ‚Weekend‘ von Godard ansehen. Der Film lief im Kommunalen Kino. Bekannt für anspruchsvolle Filme. Wir waren oft dort zu Gast. Ganz abgesehen davon, dass wir eigentlich ständig ins Kino gingen. Gewissen Betätigungen außen vor gelassen, hätte ich damals wirklich keine Wohnung gebraucht.
Bemüht, stets pünktlich zum Kinobesuch zu erscheinen, ließ es sich kaum vermeiden, Annette kennenzulernen. Sie saß an der Kasse vom Kommunalen Kino und war eine wirklich nette. Unmöglich, sie nicht, sagen wir mal, zu beachten.
Am Weekend-Abend, der Film ist wirklich mühsam, musste ich gut vorm Ende, dringend mal aufs Klo. Ich ging dem Bedürfnis nach, und wo ich schon mal dabei war, einem weiteren, indem ich Annette an der Kinokasse aufsuchte.
Damals wurden die Filme zum Vorführen noch in mehreren Teilen angeliefert. Und Annette verkündete sogleich, dass der Vorführer heut‘ nicht so gut drauf sei. Er hatte die dritte Spule nach der ersten eingelegt und danach die Zweite. „Aber bis jetzt hat’s keiner bemerkt“, kommentierte Annegret das Ereignis.
Ich betrat daraufhin gar nicht mehr den Kinosaal, lernte stattdessen Annette ein wenig besser kennen und harrte, ganz ohne Langeweile, auf das Ende des Films.
Viel zu früh fand es statt. Das Publikum strömte heraus und euphorisierte in lauten Tönen ob der Genialität Godards. Marga, zum Glück, nicht. Das verlängerte damals unsere gemeinsame Zeit.
Doch zurück zu ‚One plus one‘. Ich wohnte damals noch bei meinen Eltern. Ja, ja, Spätzünder, ich weiß. Jedenfalls ging ich ums Verplatzen nicht ins Bett. „Fredi, was machst Du denn noch?“ – „Will mir noch ‘n Film angucken.“ – „Du musst aber morgen wieder früh raus!“ Dialog Ende.
Die Augen bereits nahe Null geschaltet, startete endlich ‚One plus one‘. Von den Stones gewohnt, dass deren Songs stets einen Hook haben, schätzte ich dieses Vorgehen auch bei Kinofilmen. Doch ‚One plus one‘ hatte keinen Hook. Es dauerte auch erbärmlich lange, bis mal ein Stone zu sehen war. Und als es der Fall war, stand er nicht mal auf der Bühne. Er lungerte in einem Studio und rehearselte over and over das Opening von ‚Sympathy for the devil‘. Toll.
Trotzdem hielt ich durch. Wofür? Na, um eine sehr melodische Einspielung von Herrn Richards wahrzunehmen. Hab‘ mir deswegen sogar mal ein Bootleg gekauft. Aber die Jungs lagen wohl richtig. So, wäre ‚Sympathy‘ wohl nie legendär geworden.
Performance
Die Stones damals im Fernsehen zu sehen, war eher ein Unding. Klar, es gab Musiksendungen. Zum Beispiel die Hit-Parade mit Dieter Thomas Heck. Oder den Beat-Club. Aber waren da die Stones zu sehen? Nicht, dass ich wüsste.
Zum Glück, fühlte sich Herr Jagger berufen ins Leinwandgeschäft einzusteigen. Performance wurde angekündigt. Der Film lief, wie sollte es auch anders sein, im Kommunalen Kino.
Annette war wieder dabei. Sie schenkte mir das deutsche Aushangplakat, ein Aushangfoto – Mick Jagger in Grün – und, kurze Zeit später, sich. Ich weiß, altbackener und blöder lässt sich’s nicht formulieren. Zumal wir wirklich eine schöne Zeit hatten.
Der Film selbst war jedenfalls, ja, was eigentlich? Nun, auf jeden Fall langatmig. Da nutzte es auch nichts, dass Jagger so was wie einen bühnenartigen Auftritt hatte und später sogar einen ganzen Song interpretierte: Memo from Turner. Klar kaufte ich mir die Single. Doch bereits die B-Seite war arg gewöhnungsbedürftig.
Vier Jahre später bekam ich von einem Freund gar die Elpee geschenkt. Ihm gefiel die Musik einfach nicht. Mir eher auch nicht. Doch ich hörte die Platte wieder und wieder. Warum und weshalb? Dazu später mehr. Das braucht schon ein eigenes Kapitel.
‚Country Honk‘ und ‚Honky Tonk Women‘
Die Beatles veröffentlichten ‚Let it be’. Wenige Wochen später erschien ‚Let it bleed‘. Na, von wem wohl? Genau!
Kurz zuvor hatten die Stones noch eine Single auf den Markt geworfen: ‚Honky Tonk Women‘. Wieder mal einen echter Brecher. Watts hämmerte dabei angeblich mit einer leeren Cola-Flasche aufs Tom-Tom. Doch selbst wenn er wie Chruschtschow, wenige Jahre zuvor und bei anderer Gelegenheit einen Schuh genommen hätte, hätte das nicht verhindert, dass aus ‚Honky Tonk Women‘ ein Hit geworden wär‘.
Auf ‚Let it bleed‘ gab’s das Stück als Hard-Core-Country-Version. Doch zum Glück waren noch andere Titel auf der Platte. Haben musste ich sie sowieso. Möglichst gleich. Und das gelang.
Das Cover war grässlich orange – bei den Automobilen waren grad‘ die Sicherheits-Farben im Kommen – ansonsten nur Schrift drauf. Der Grund dafür, wurde auf einem inne liegenden Notizzettel verkündet. Es war ein Gutschein, für den, sobald nach Fertigstellung, dass Originalcover kostenfrei zugesandt werden würde.
Kaum zu glauben, aber es funktionierte. Zwei, drei Wochen später hielt ich das Cover mit der außergewöhnlichen Hochzeitstorte in den Händen. Konnte das Provisorium kurzer Hand müllen – was ich, logisch, nicht tat.
Im Grunde wär’s wieder mal an der Zeit gewesen, ein wenig auszusortieren. Ging doch ein weiteres Kapitel meines Seins zu Ende. Die Lehrjahre, die wie damals allgemein bekannt, keine Herrenjahre waren.
Die Werbekunst wollte mich nicht übernehmen. Zumindest nicht als Kreativen, als Werbetexter. Lediglich Herr Hoyer hatte ein gewisses Interesse daran, bei ihm als Verkaufsassistent zu beginnen. Sollte Zeitungsmatern offerieren. Doch das wollte ich nicht.
Wie, keine Ahnung, was Matern sind?!? Klar, geht ja heute anders – online. Damals jedenfalls wurde mit hellblauer Matschepampe eine Mater, beispielsweise von einer Anzeige, gepresst, die dann an den Verlag versendet wurde, der dann ein Klischee davon fertigte, dass dann in die Druckvorlage eingebaut wurde. Umständlicher geht’s nicht, was?
Statt also Verkaufsassistent zu werden, tingelte ich erst mal ein wenig durch die Personal-Angebote der Tageszeitungen. Honeywell suchte einen Mitarbeiter in der Abteilung ‚Dokumentation‘. Tagsüber hatte ich Fotokopien zu machen. Nach Feierabend philosophierte der Abteilungsleiter mit mir darüber, wie man die Arbeit effektiver gestalten könne. Ich machte einige Vorschläge und kündigte.
Der Kaufhof suchte Verkäufer fürs Weihnachtsgeschäft. Hatte Lust, es zu machen. Der Personaldiensthabende meinte, dass ich mit meiner Ausbildung doch auch etwas anderes im Hause machen könne. Wollte ich aber nicht. Wollte einfach mal an der Kundenfront sein. „So zuvorkommend wurde ich ja noch nie beraten“, meinte meine erste Kundin. 48 Stunden später kündigte ich. Verkäufer in einem Kaufhaus ist echt ein Knochenjob.
Die TN, mein Vater arbeitete dort, brauchte kurzfristig Mitarbeiter für die Inventur. Ich sagte zu, zählte mir die Birne wund und bedauerte, dass keine Dagmar Flath dabei war. Diesmal wär‘ ich bereit gewesen ;-)
Nach getaner Arbeit gingen Marga und ich essen. War so’n angesagter Platz, bei dem das Essen am Tisch zubereitet wurde. Ehedem ein echtes Novum.
Wir schauten uns um und entdeckten Jochen. War er da schon mit Margitta zusammen? Weiß nich‘ mehr. Erzählte zumindest von meinem Dümpeln. Und Jochen, selten um einen Rat verlegen, empfahl mir, mich doch mal bei Klaus Barski zu melden.
Barski hatte einst ebenfalls bei der Werbekunst gelernt, inzwischen eine kleine Agentur ‚Barski & Johnston Advertising‘ und war, wie ich bald erfahren sollte, so was wie ein Schaum gebremster Hamlet.
Einziger Unterschied: Barski gibt’s heut‘ noch. Switchen Sie durch die TV-Channels oder besser noch, googeln Sie ‘ne Runde, Sie werden ihn finden.
Tags drauf rief ich Barski an. „Jochen, ja, ich suche einen Werbeassistenten. Komm‘ doch morgen mal vorbei“. Morgen war Samstag. Zum Vorbeikommen hatte ich es nicht weit von zu Hause. Sein Office war am Alleenring, nächst der Wetteraustraße.
Ich klingelte, Barski öffnete, eine Frau huschte durch die Gefilde, ein Kaffee wurde gereicht, dann hatte ich mir ‚Abbey Road‘ – die Beatles auf dem Zebrastreifen – anzuhören.
Bemüht mich zu positionieren, fragte ich, ob er auch ‚Let it Bleed‘ kennt. Barski nickte standardisiert – dauerte einige Zeit, bis ich derartiges als ‚Interessiert mich nicht‘ deuten konnte – doch Bonnie, die Frau, die da wieselte, seine Frau, meinte: „Ja, da ist ein schönes Lied drauf“. Sie sprach von ‚Country Honk‘.
Ergänzend meinte sie, dass sie Amerikanerin ist, dass sie Country-Musik mag und dass sie eine Freundin hatte, die Boy Dylan kannte.
Bonnie stammte aus irgendeinem kleinen Ort, irgendwo in Amerika. Herr Dylan wohl auch. Und eines Tages sprach Herr Zimmermann zu Bonnie’s Freundin: „Ich geh‘ fort von hier. Ich will berühmt werden“. Etwas, das ihm durchaus gelungen ist – oder ?!?
Barski gefiel dieser unbeteiligte Dialog nicht sonderlich. Energisch schaltete er sich ein und fragte, ob ich am Montag anfangen könne. Ich konnte, erwiderte jedoch was von Vertrag und so. „Bonnie, schreib‘ doch mal einen Vertrag“. Bonnie schrieb, und ich war unvermittelt Medialeiter. Was bitte ist ‚Media‘?
Ich lernte es. Doch mehr noch lernte ich die Grundregeln des 3-Band-Billards. Ein anderer Mitarbeiter Barskis war Grafiker. Er fuhr einen 1000er TT. Getunt. Nahm an Flugplatzrennen teil und ist inzwischen verstorben.
Fuckin‘ Chelsea-Drugstore
Einmal mehr holte mich ein aktueller Stonessong Jahre später ein. Die Rede ist von ‚You can’t always get what you want‘. Ging mir 1972 sehr nah. Ich war mit Dieter in Europa unterwegs. Eigentlich wollten wir nach Amerika. Aber ach. In Almunecar – Spanien – traf ich eine gewisse Judy Woods.
Wir zelebrierten die Nacht am Strand und verabredeten uns – sie nach Norden, ich nach Süden weiter ziehend – auf rund 3 Monate später an einem Campingplatz in London. Irgendwie hatte es was vom braven Soldaten Schweijk. Sie erinnern? Nach dem Krieg um 10.
Nun, es funktionierte auch bei uns. Soweit. Drei Monate später trudelten Dieter und ich im Chrystal Palace in London ein. Kein Hotel. Vielmehr ein Camping-Platz. An der Rezeption hing ein Zettel. Mr. Stute please call Judy Woods. Echt wahr.
Ich war völlig platt. Leider auch wegen einer Erkältung, die ich unterwegs nicht recht auskuriert hatte. Nach zwei, drei Tagen in irgendeinem Hotel in Chelsea rappelte ich mich auf, in die King’s Road.
Gegenüber vom Chelsea-Drugstore war eine Telefonzelle. Ich wählte die Nummer, jemand hob ab und bedauerte sogleich, dass Judy zurück nach Australien geflogen sei.
Ich sank innerlich zusammen, ließ mir zwar noch ihre Adresse und Telefonnummer geben, doch wusste, dass ich mich niemals mehr melden werde. Immediately schoss mir ‚You can’t always get what you want’ durch den Kopf. Zumal im Song just jener Drugstore Erwähnung fand. Exkurs Ende.
Back to Barski
Bei Barski lernte ich vor allem, Dinge engagiert, aber nicht zu ernst zu nehmen. War mal bei einem Meeting dabei, bei dem’s dem Kunden um die Rechnung ging. 1000 Mark waren ihm zu viel für einen Werbebrief – also eher ein Anschreiben. „Okay, sagen wir 500. Einverstanden?“ Der Kunde nickte und Barski vervollständigte: „Komm‘, Herr Stute, wir gehen. Und Sie“, dem Kunden zugewandt, „brauchen bei mir nicht mehr anzurufen“.
Geschah wohl auch nicht. Stattdessen riefen irgendwelche dubiosen Gestalten an, die eine Menge Zloty in Mark umgetauscht haben wollten. Barski lehnte ab. Dann wollte Western Publishing entgrausamte Märchen auf den deutschen Markt bringen. Barski sagte zu. Doch es funktionierte nicht.
Anschließend wollte er eine Band promoten, ins Phorno-Geschäft – ja, er nannte es so – einsteigen und zwischendurch sein Seat-Cabrio – das gab’s ehedem via Quelle zu kaufen – wieder verkaufen.
Letzteres sollte ich übernehmen. Klar, als Media-Leiter. Weiß nicht mehr, ob’s mir gelang. Doch – sein einstiger Werbeassistent hatte Selbstmord begangen – kurz darauf kündigte ich.
Barski meinte: „Würde ich an Deiner Stelle auch tun“. Wir trennten uns in positivem Sinn, einvernehmlich. Stand so auch im Zeugnis, das ich, wozu auch immer, haben mochte. Ohne zu wissen, dass es da eine eigene Zeugnissprache gibt. Und hätte ich dieses Zeugnis jemals verwenden wollen, ich wär‘ glatt in den Knast gekommen.
Jahre später hatte ich wieder mal mit Barski zu tun. Er rief mich an. Bei Saatchi & Saatchi – da arbeitete ich damals. Er sprach davon, dass er in den Staaten lebte und das ihm Teile des Meeres gehörten und so. Im Hintergrund mahnte ein Stimme: „Gib‘ nicht so an“. Dann hörte ich Jahre nix von ihm. Bis ich, eines Tages in irgendeinem dritten Programm Barski sah.
Er sprach von seinem aktuellen Buch: „Lebenslänglich Cote de Azur“. Ich lauschte. Kurz darauf rief Barski an. Er gebe eine Party. Ob ich kommen wollte. War grad‘ ‘ne schwierige Zeit für Uschi, nein, nicht die, um die es zuvor ging, sondern für meine Immer-noch-Frau und mich. Unsere Tochter bekam Diabetes diagnostiziert. Party war also eher weniger angesagt. Ich sagte ab, und hab‘ seitdem nix mehr von ihm gehört. Na, vielleicht treffen wir uns ja mal wieder.
Bye, bye, Brian.
Nach Barski wollte ich nach Berlin. West. Einerseits gab’s da eine anerkannte Werbefachschule. Andererseits wollte ich nicht zur Bundeswehr. Und nach West-Berlin zu siedeln war ein probates Mittel, den Wehrdienst zu vermeiden.
Voller Zuversicht leitete ich die ersten Schritte ein. Den Aufnahmeprüfungstermin erkundigen. Freunde fragen, ob ich bei ihnen eventuell ein Weilchen wohnen könne und ähnliches mehr.
Abends rief Marga an – treffen war angesagt – und meinte: Hast Du gehört, dass Brian Jones gestorben ist? Kam gerade in den Nachrichten“. – „Was?!?“ – „Ja, er wurde tot in seinem Swimming-Pool aufgefunden“. – „Was???“
Klar war ich ob der Neuigkeit ein wenig durch den Wind. So schnell kann’s gehen. Doch mehr wunderte mich, dass das Ereignis in einer gestandenen Nachrichten-Sendung gemeldet wurde und nicht erst paar Tage drauf in der ‚Bravo‘ erschien.
Grund dafür war, dass angeblich Drogen im Spiel waren. Und Drogen waren damals bundesweit ein aktuelles Thema. Und die Stones waren diesbezüglich kurz zuvor bereits auffällig geworden. Und sie wurden nicht verurteilt.
Wenige Tage später, das ward dann in der ‚Bravo‘, wurde verkündet, dass die Stones ein Free Concert im Hyde-Park geben werden. Zu Ehren von Brian, und um seinen Ersatzmann vorzustellen. Das ging wahrlich rasch. Vermutlich, weil es schon seit langem wegen Brian in der Band brodelte. Dabei soll er doch abseits der Bühne ein überaus liebenswerter Mensch gewesen sein.
Hier ein Auszug aus einer Stones-Biographie von Philip Normann: „Als Mary Hallett (Anmerkung: Haushaltshilfe auf der Cotchford-Farm, wo in den zwanziger Jahren die Geschichten von Winnie-the-Pooh erdacht wurden) im November 1968 erfuhr, dass die Taylors aus der Cotchford-Farm auszogen und diese von einem Rolling Stone gekauft worden war, der dort seinen ständigen Wohnsitz aufschlagen wollte, war Mrs. Hallett verständlicherweise zutiefst betroffen.
Sie hatte zwar keine bestimmten Vorurteile gegen die Rolling Stones, schließlich gehörte sie einer Generation an, die eine Popgruppe nicht von der anderen unterscheiden konnte, doch hatte sie genügend über solche Leute gehört und gelesen, um zu wissen, dass sie wahrscheinlich nicht mit ihnen zurechtkommen würde. Auf Anfrage des neuen Besitzers hin erklärte sie sich dennoch einverstanden, weiterhin, wenn auch erst einmal auf Probe, ins Haus zu kommen. So machte Mary Hallett schließlich die Bekanntschaft von Brian Jones.
Diese Begegnung führte dazu, dass sie ihre sämtlichen vor gefassten Meinungen über Popstars von Grund auf revidierte. “Einen netteren, höflicheren Jungen hätte man sich nicht wünschen können. In all den Monaten, die ich für ihn gearbeitet habe, war er mir gegenüber die Freundlichkeit in Person. Und diese guten Manieren! Bei Brian hieß es nie: ’Ich will...’ oder ’Tun Sie das und das...’. Es hieß immer nur: ’Bitte, Mrs. Hallett, würde es Ihnen etwas ausmachen...’.
Nachdem ich angefangen hatte für ihn zu arbeiten, bemerkte er, dass ich keinen Telefonanschluss besaß. Auf der Stelle hatte er mir einen legen lassen – und die Rechnung wurde immer von ihm bezahlt. Jedes Mal wenn es läutete, habe ich damit gerechnet, Brians Stimme zu hören. ’Oh, Mrs. Hallett...’ sagte er zutiefst bekümmert, ’ich kriege dieses Feuer einfach nicht an. Meinen Sie, Sie könnten rüberkommen?’
Eines Tages haben wir uns lange unterhalten, während ich saubermachte und er am Küchentisch saß. Ich habe gesehen, dass er in einer dieser großen, altmodischen Familienbibeln las, wie wir sie hatten, als ich noch ein kleines Mädchen war. Ich entdeckte, dass er seine Bibel sehr gut kannte – besser als ich. Ich hatte immer das Gefühl, dass er ein sehr, sehr einsamer Junge war. Wenn ich einkaufen war und nach Hause kam, saß Brian oft auf der Türschwelle und hat mich erwartet.“
Auf der Cotchford-Farm, umgeben von Erinnerungen an Pooh, Piget und Christopher Robin, geschah es eines Abends spät im Mai, dass Brian Jones aufhörte ein Rolling Stone zu sein. Die Szene verlief nicht annähernd so traumatisch, wie alle erwartet hatten. Mick und Keith taten so, als ob sie Brian nicht für immer feuern wollten; der seinerseits so tat, als sei er froh, gehen zu können. Sie trennten sich in freundschaftlichem Ton voneinander. Dann ging Brian in die Küche seines Hauses, legte den Kopf auf den frisch gescheuerten Holztisch und weinte.
Brian kannte die Winnie-the-Pooh-Geschichten fast auswendig, und besonders Vergnügen bereitete es ihm, Alexis (Korner) die Sonnenuhr zu zeigen – unter der angeblich Milnes Originalmanuskripte vergraben waren – und die Brücke über den kleinen Bach, auf der Pooh und Christopher Robin das Spiel mit den Pooh-sticks erfunden hatten.
Beide Korners erinnern sich daran, wie aufgeregt Brian an einem Wochenende war, weil er seine Eltern überredet hatte, ihn demnächst aus Cheltenham zu besuchen und eine ganze Woche bei ihm zu bleiben. “Er wollte ihnen zeigen, dass er in einem richtigen Haus wohnt“, erzählte Alexis Korner. “Das schien ihm wichtig – seinem Vater zu beweisen, dass seine Musik ihm ein durch und durch konventionelles Leben erlaubte.“
Trotz seiner freudigen Erregung wurde er doch immer noch von Ängsten und Befürchtungen heimgesucht. Am schlimmsten von seinen Ängsten war der nagende Zweifel, dass es sich bei dem Abkommen mit Mick und Keith um einen ausgefeilten Trick handeln könnte; denn die versprochenen hunderttausend Pfund waren bislang nicht gezahlt worden. Brian brauchte das Geld für die hohen Kosten, die ein so großes und altes Anwesen forderte.
Sein Bauunternehmer Frank Thorogood zog gleich ganz in der Cotchford-Farm ein und lebte in einer Wohnung über der Garage. Brian in seiner Gutherzigkeit genoss jede Gesellschaft, und er stellte nicht nur Thorogood, sondern auch allen Gelegenheitsarbeitern sein Haus, sein Essen und seine Getränke zur Verfügung. Während die Küchendecke aufgebrochen blieb, dass man in sein Schlafzimmer im oberen Stock sehen konnte, sonnten sich die Bauarbeiter und Schreiner am Swimming-Pool, aßen Hühnchen und tranken gekühlten Weißwein. Mrs. Hallett fand heraus – doch behielt es vorläufig für sich – dass die Bauarbeiter, wenn sie im Dorfwirtshaus Getränke oder Zigaretten kauften, alles einfach auf Brians Namen schreiben ließen.
Manchmal klagte selbst Brian bei Alexis über Thorogood‘s Faulheit und das Geld, das er ausgab, ohne dass man etwas dafür sah. Dann schlug seine Stimmung jedoch wieder um. Er legte ’Proud Mary’ auf, lag ausgestreckt neben dem Sprungbrett seines leuchtendblauen Swimming-Pools und blickte in den Himmel, der fast so blau war, wie Brian es aus Marokko kannte.“
Tja. Und in diesem Swimming-Pool war er nun abgesoffen. Ohne dass Drogen eine Rolle spielten. Sein Asthmaleiden hatte ihm wohl den Garaus bereitet. Jahre später erlag ein Freund, Jesko, demselben Schicksal. Allerdings nicht in einem Swimming-Pool, sondern vor einer Aufzugtür. Er hatte sein Spray vergessen. Doch der Lift kam nicht. Zumindest nicht rechtzeitig.
Manfred Stute †2013